Serie: Die Legende vom Changeling, Band 2 Eine Besprechung / Rezension von Frank Drehmel |
Nachdem man die Leiche ihres Mannes in ihr kärgliches Heim inmitten des Londoner Elends gebracht hat, verfällt die Mutter Sheilas und Scrubbys dem Wahnsinn und stürzt sich in die nächtliche Themse.
Zwar erlebt der kleine Junge den Selbstmord der Mutter hautnah mit, doch für Trauer bleibt ihm keine Zeit, da ihn ein Unbekannter vom Ort des Geschehens fortlockt in ein Theater, in welchem Scrubby erstmals „das Licht“ in Gestalt einer kleinen Elfe wahrnimmt; ein Licht, das jene Wesen sandten, die über den Weg des Kleinen wachen.
Für die beiden Waisen beginnt im Folgenden dennoch eine schwere Zeit, denn ihre Wohnung - so ärmlich sie auch ist - will bezahlt sein, sodass der Junge gezwungen ist, in einem düsteren Bergwerk - einem Fanal der Schwerindustrie und der Ausbeutung im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts - einem harten Tagewerk nachzugehen, wobei allerdings unbekannte Mächte ihre Hände schützend über den Kleinen halten und er so von den übelsten Folgen der menschenverachtenden Arbeit zunächst verschont bleibt.
Er findet sogar die Zeit, eines der mythischen Wesen kennen zu lernen, die in den dunklen und verbotenen Tunneln hausen: einen freundlichen Knocker, der Scrubby in die Geheimnisse der Unterwelt einweiht und ihn an einen Ort, tief verborgen in den Gebeinen der Erde, führt, an dem die Drachen - Entitäten von elementarer Gewalt - in ihrem Bett aus Lava und Feuer schlafen.
Eines Tages kommt es in der Grube zu einem Aufstand unter den Arbeitern ob der Ungerechtigkeiten und der Willkür der Minenbetreiber. Da kürzlich erst eine Revolte blutig niedergeschlagen wurde - jene, bei der Scrubbys Vater starb -, scheuen sich die Ausbeuter, erneut Gewalt anzuwenden und folgen dem Plan des rotäugigen schwarzen Herren, die Drachen tief unter der Stadt zu erwecken, einem Plan, der den Tod Tausender zur Folge haben könnte.
War der erste Band in weiten Teilen visuell noch durch idyllische, pittoreske Landschaften und inhaltlich durch das freie Leben in der Natur geprägt, so kommt Band 2 sowohl in Artwork als auch Story deutlich düsterer daher.
Auf der künstlerischen Seite macht sich dieser dunklere Ansatz in erster Linie in der gedeckten, ins bräunlich Trübe spielenden Koloration bemerkbar, in zweiter Linie, zeichnerisch, in den verhärmten Gesichtern, den gesenkten Köpfen und den gebeugten Körpern der Menschen sowie in den kippenden Linien und krummen Fassaden vieler Gebäude.
Inhaltlich stellt der Autor dem harten Leben der Arbeiterklasse und dem Zynismus der „Kapitalisten“ bzw. der herrschenden Klasse, zu dem er schon auf der ersten Seite explizit Stellung bezieht, eine zunehmend metaphysischer werdende Sicht der Welt gegenüber, lässt das Märchenhafte, das Wunderbare nicht nur im Kleinen - den freundlichen Ratten in der Stube oder dem tapferen Efeu an der Mauer -, sondern schließlich auch ganz massiv im Großen über das mundane Leben hereinbrechen.
An einer Stelle gerät Dubois dynamische, actionreich inszenierte Geschichte leicht ins Stolpern; und diese Stelle betrifft den Tod der Mutter, der für beide Kinder keine Rolle zu spielen und den gerade Scrubby in der Zeitspanne eines Augenblicks zu verarbeiten scheint. Hier wäre etwas mehr Trauer angebracht gewesen, auch wenn man den Mangel an zutiefst menschlicher Emotionalität als Folge des Hauchs der Anderswelt, welche die Seele des Jungen berührt hat, sehen kann.
Fazit: eine traum- und märchenhafte Gratwanderung zwischen der Anderswelt und der sozial harten Realität eines Industriezeitalters. Spannend, fesselnd, wunderschön!