| Titel: Cheri-Bibi Eine Besprechung / Rezension von Frank Drehmel |
„Cheri-Bibi“ basiert auf einem Krimi des französischen Autors Gaston Leroux aus dem Jahre 1913. Dem breiten deutschen Publikum dürfte Laroux vor allem durch „Das Phantom der Oper“ bekannt sein, obwohl sein Å’uvre umfangreich ist und neben Romanen auch Bühnenstücke und Arbeiten für die damals noch junge Kinoindustrie umfasst.
Der vorliegende 176-seitige Sammelband gliedert sich in drei Teile - Fatalitas! (Fatalitas!), Der Marquis (Le Marquis), Cecily (Cécily) -, welche ursprünglich in den Jahren 2006 bis 2008 im Original als Einzelalben veröffentlicht wurden. Erzählt wird die Geschichte des Gefangenen mit der Nummer 3216, Cheri-Bibi, der durch unglückliche Umstände als Verbrecher abgestempelt und zum Gejagten der französischen Polizei wurde:
Als Sohn von Bediensteten der reichen Familie Bourrelier wird der 16-jährige Cheri-Bibi nächtens Zeuge eines Überfalls auf den alten Bourrelier, den Mann, der Cheri-Bibis Schwester vergewaltigte und dessen eigener, lieblicher Tochter, Cecile, der Junge seit langem in heimlicher Liebe zugetan ist. Dank dieser Liebe stellt sich der Junge in dieser Situation zwar an die Seite Bourreliers, doch das Schicksal meint es nicht gut. Unabsichtlich tötet Cheri-Bibi den Alten und als er dann noch mit einem weiteren Mord in Verbindung gebracht wird, ist es lediglich seine Jugend, die ihn nach seiner Gefangennahme vor der Guillotine bewahrt.
In der Gewissheit, kein schlechter Mensch zu sein, flieht Cheri-Bibi aus dem Zuchthaus, stellt sich aber später der Polizei, weil er das Leben auf der Flucht vor Polizeikommissar Costaud - neben dem dekadenten Marquis Maxim de Touchais ein weiterer Verehrer Ceciles - nicht länger erträgt, der Polizei. Erneut entgeht er dem Fallbeil, wird als Gefangener Nummer 3216 jedoch nach Französisch-Guayana in eine Strafkolonie bei Cayenne verbannt.
Hier lernt er den Spitzbuben La Ficelle und den hochgebildeten schwarzen Arzt Kanak kennen, welcher ab und an dem Laster des Kannibalismus frönt. Die Lebensumstände im Straflager sowie ein neuer Fluchtversuch schweißen sie zu Freunden zusammen und lassen sie später einen tollkühnen Plan in die Tat umsetzen.
Während eines erneuten Gefangenentransportes auf einem Schiff gelingt es Cheri-Bibi und seinen Mithäftlingen, die Besatzung zu überwältigen und die Rollen mit den Überwältigten zu tauschen. Als ihnen auf hoher See Schiffbrüchige in die Hände fallen - darunter auch Marquis Maxim de Touchais - beginnt eine perfide Scharade, an deren Ende Cheri-Bibi im wahrsten Sinne des Wortes und mit Hilfe Kanaks in die Haut des Edelmannes schlüpft, um an seiner statt nach Frankreich zurückzukehren und die Gunst von Cecile zu erringen. Doch die Welt der Bourgeoisie folgt ihren eigenen Regeln und bald fühlt sich Cheri-Bibi gezwungen, erneut Verbrechen zu begehen.
„Cheri-Bibi“ ist eine klassische, zum Teil etwas behäbig erzählte Kriminal- und Abenteuergeschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts, in der sich Anklänge an französische Autoren wie Victor Hugo, Alexandre Dumas d. Ä. oder Pierre Souvestre wiederfinden lassen und die aus heutiger Sicht thematisch wie inhaltlich altmodisch anmutet, ohne dass dies jedoch der Spannung Abbruch tut.
Aufgrund der komplizierten Erzählstruktur, die in zahlreichen Rückblenden - aus z. T. unterschiedlichen Perspektiven - den Werdegang des Hauptprotagonisten, Cheri-Bibi, nachzeichnet, ist es zwar nicht immer ganz einfach, der Handlung zu folgen, aber unterm Strich sollte ein aufmerksamer Leser keine Verständnisschwierigkeiten haben, zumal sich die unterschiedlichen Handlungsrahmen deutlich unterscheiden.
Boidins Artwork ist sowohl eigenständig als auch stimmig. Die Figuren haben auf der zeichnerischen Ebene einen hohen Wiedererkennungswert, die Koloration schafft abhängig vom konkreten Handlungsort jeweils eine ganz eigene, authentische Atmosphäre und die visuell dynamische, fast filmhafte Gestaltung und Abwicklung der Panels mit ihren zum Teil bemerkenswerten Überblendungen zwischen „Gestern“ und „Heute“ oder einzelnen Szenen führt den Leser insgesamt flüssig durch die verschachtelte Geschichte.
Etwas befremdlich wirkt zunächst die Figur des Cheri-Bibi, die von Boidin grobschlächtig, roh, brutal, mit einer tumben Physiognomie angelegt ist und der man als Leser auf Grund der Äußerlichkeiten nur sehr zögerlich Sympathie entgegenbringt.
Fazit: eine spannende, originell aufgebaute Abenteuergeschichte, die zwar nicht ganz ohne Längen ist, die jedoch nicht zuletzt dank des stimmigen Artworks eine vergangene Epoche aufleben lässt.