Serie: ~ Rezensierte Ausgabe (mit einem Nachwort von Uwe Anton): Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
In dem sehr lesenswerten Nachwort zur Orakel-Ausgabe von 1989 beschreibt Uwe Anton die Lebensumstände Philip Dicks zu Anfang der sechziger Jahre folgendermaßen: Der Autor hatte in den späten Fünfzigern zahlreiche Mainstream-Romane geschrieben, um der Fronarbeit für kargen Lohn sowie den künstlerischen Einschränkungen, die damals im SF-Genre die Regel waren, zu entkommen. Unglücklicherweise vermochte sein literarischer Agent keines dieser realistischen Werke zu verkaufen, sodass sich Dick gezwungen sah, zur Science Fiction zurückzukehren. Zuerst verfasste er mit Time out of Joint (dt. Zeitlose Zeit) einen Roman, der über weite Strecken auf phantastische Elemente verzichtete. Ende 1961 dann beendete er das Manuskript, das ihm seinen einzigen Hugo Award für den besten Roman des Jahres einbringen sollte: Das Orakel vom Berge.
Das Orakel ist ein frühes Beispiel der Sorte Alternativweltroman, die sich die Frage stellt: Was wäre, wenn die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten? Dick schildert in seinem Buch eine Welt des Jahres 1962, in der Nazi-Deutschland und Japan die Welt erobert haben. Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden aufgeteilt in einen deutschen Einflussbereich an der Ostküste und einen japanischen an der Westküste. In der Mitte versuchen die wirtschaftlich unbedeutenden sogenannten "Rocky Mountain Staaten" sich ihre prekäre Unabhängigkeit zu bewahren.
Die wichtigsten handelnden Personen des Buches leben - mit einer Ausnahme - sämtlich in San Francisco und kämpfen in ganz unterschiedlichen Lebenssphären mit den Unwägbarkeiten ihres Alltags:
Nobusuke Tagomi ist der Leiter der japanischen Handelsmission vor Ort. Er ist besorgt über den anstehenden Besuch eines gewissen Mr. Baynes, angeblich der Vertreter eines schwedischen Plastikkonzerns, wahrscheinlich aber ein Nazi-Spion mit unbekanntem Auftrag.
Robert Childan ist der Besitzer von American Artistic Handicrafts, des angesehensten Geschäftes für amerikanische Memorabilien. Zu Childans Kunden zählen vor allem reiche Japaner, die bereit sind, für Alltagsgegenstände der untergegangenen USA beträchtliche Summen zu zahlen. Als ein mysteriöser Kunde ihn wissen lässt, dass ein angeblich authentischer Colt aus seinem Angebot lediglich ein Nachbau ist, beginnt Childan um die Zukunft seines Ladens zu fürchten.
Der mysteriöse Kunde wiederum ist Frank Frink, ein unter dem Namen Fink in New York geborener Jude, der es mit knapper Not geschafft hat, den Fängen der Nazis - und damit der Ermordung - zu entgehen. Frink hat gerade seine Arbeitsstelle als Fälscher verloren und versucht sich nun aus schierer Verzweiflung an Gegenwarts-Kunsthandwerk.
Währenddessen versucht Frinks getrennt lebende Frau Juliana in Colorado, sich möglichst weit weg von ihrem Gatten allein durchzuschlagen.
Alle diese Personen haben miteinander gemein, dass sie oft in quälendem Zweifel darüber sind, wie sie sich Problemen gegenüber verhalten sollen. Tagomi und die Frinks benutzen regelmäßig das altchinesische I Ging zum Zwecke der Wahrsagung und richten sich nach den kryptischen Sprüchen dieses bis zu fünftausend Jahre alten philosophischen Textes. Der Atheist Baynes dagegen muss seine Ungewissheit ohne `höhere’, quasi religiöse Unterstützung ertragen. Er will sich nicht als Teil eines, ob seiner irdischen Allmacht, gottähnlichen Nazikollektivs sehen, akzeptiert die grundsätzliche "Hilflosigkeit des Menschen" (S. 46).
Falls ich Das Orakel in Zukunft noch einmal lesen sollte, liegt das sicher an der Beschreibung dieser uns allen so geläufigen Hilflosigkeit, weniger an Dicks Personen selbst. Es fällt schwer, einige der Handlungsträger als `runde’ Charaktere zu betrachten. Dick scheint sie lediglich als Typen bzw. Sprachrohr einer Lebenseinstellung entworfen zu haben. Frank Frink etwa ist der zweifelnde Künstler und Vertreter einer verfolgten Minderheit. Robert Childan ist der Opportunist ohne Selbstwertgefühl, dem es erst gelingt, seinen widerlichen Rassismus ein Stück weit zu überwinden, als er beginnt, amerikanische Gegenwartskunst auszustellen und Stolz auf die eigene Kultur zu entwickeln. Mr Baynes ist das Sprachrohr des aufgeklärten Atheismus - und des Autors selbst. Unsicher, ob er seine Ziele in San Francisco wirklich erreicht hat, sinniert er auf dem Rückflug nach Berlin pessimistisch:
"Das schreckliche Dilemma unseres Lebens. Was auch immer geschieht. Es ist unvergleichlich böse. (...)
Offenbar geht es so wie immer weiter. Von Tag zu Tag. In diesem Augenblick arbeiten wir gegen Operation Löwenzahn. Später, in einem anderen Augenblick, mühen wir uns, die Polizei zu besiegen. Aber wir können nicht alles gleichzeitig tun; es ist eine Folge von Ereignissen. Ein Prozeß, der sich langsam entfaltet. Wir können nur das Ende kontrollieren, indem wir bei jeder Stufe unsere Wahl treffen.
Wir können nur hoffen, dachte er. Und das Beste versuchen.
Auf irgendeiner anderen Welt ist es vielleicht anders. Besser. Dort mag es klare Alternativen zwischen Gut und Böse geben. Nicht diese obskuren Mischungen, dieses Durcheinander."
In diesem Textzitat verstecken sich zwei wesentliche Aussagen: Der Mensch ist, wie er ist (und er ist manchmal schrecklich). Und: Wir tappen häufig im Dunkeln, aber wer nichts tut, kann auch nichts erreichen.
Um diese Botschaften zu illustrieren, spielt Philip Dick - wie so oft - ein Spiel mit unklaren Identitäten und Realitäten. Vieles ist nicht so, wie es auf den ersten Blick scheint: Ein bestimmtes Feuerzeug steckte entweder bei Roosevelts Ermordung in dessen Jackentasche - oder aber es ist ein billiges Imitat. - Mr Baynes ist kein Schwede. - Mr. Childan wirkt wie ein Sympathieträger, bevor seine Schwächen offengelegt werden. - Mr Tagomi ist nicht nur ein bornierter Bürokrat, sondern erweist sich in seiner buddhistischen Verzweiflung als wichtigster Charakter des Romans. - Und der titelgebende "Man in the High Castle" lebt nicht in einem Schloss hoch droben auf einem Berg, sondern in einer ganz gewöhnlichen Vorortsiedlung in Cheyenne, Wyoming. Dieses "Orakel vom Berge" ist der Schriftsteller Hawthorne Abendsen, Verfasser eines Alternativweltromans mit dem Titel Schwer liegt die Heuschrecke, in dem die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen - und anschließend das British Empire (unter Winston Churchill) sowie die USA die Weltherrschaft antraten. Abendsens Buch ist ein Riesenbestseller. Immer wieder werden sein Inhalt oder Textpassagen zitiert.
Genau genommen geht es in Dicks Roman um drei verschiedene Welten: die Welt der Handlung, diejenige aus Abendsens Buch sowie die Welt des Lesers (also die uns bekannte Realität). In der von den Achsenmächten beherrschten Welt verüben die Nazis grauenvolle Verbrechen: Sie haben die Bevölkerung Afrikas fast vernichtet und jagen weiterhin alle Menschen jüdischen Glaubens, während die Japaner im Vergleich dazu (beschönigend) als Menschen mit Ehrgefühl und einem Sinn für geschmackvolle Innenarchitektur beschrieben werden. Abendsens Buch andererseits demonstriert, dass unter allen Umständen Menschen zu Gutem und Bösem fähig sind: Einerseits hat in Schwer liegt die Heuschrecke Churchills Royal Air Force deutsche Städte in Flammen aufgehen lassen, andererseits hat nach dem Krieg die USA eine Art Marshall-Plan für die armen Länder der Welt gestartet. Letzteres ist ein politischer Kommentar für Dicks Zeitgenossen, denen er aufzeigt, wie man auch Außenpolitik betreiben kann. Außerdem dürfte 1962 allein die Vorstellung eines von Nazis unterworfenen Landes für die Zeitgenossen des Autors in `God’s Own Country’ eine schwere Provokation gewesen sein.
Gegen Ende des Orakels treibt Dick sein Spiel mit der Realität noch eine Schraubenumdrehung weiter [Spoiler!]: Während eines Nervenzusammenbruchs findet sich Mr. Tagomi plötzlich in Welt 2 (oder 3?) wieder, und ganz zum Schluss befragt Juliana Frink das I Ging, mit dem Ergebnis, dass die Welt, in der sie lebt, nur eine Erfindung der Abendsen-Welt sei. Manche Rezensenten finden diese Wendung sehr bedeutsam, mir dagegen kam sie wie ein routinierter und uninteressanter Taschenspielertrick vor. Was ändert sich denn durch diese Pointe? Natürlich kann man sich fragen, ob die Welt, in der man lebt, real oder bloß ein Traum ist (und spätestens seit Platon haben das viele Philosophen auch getan). Aber was gewönne man durch noch mehr Ungewissheit? Nichts. Höchstens würden Menschen wie Baynes und Tagomi noch mehr zaudern - und sich vielleicht nicht den Nazis entgegenstellen.
In mancher Hinsicht unterscheidet sich Das Orakel vom Berge von `typischen’ Dick-Romanen: Die Sprache ist - in der deutschen Übersetzung - wie immer unauffällig. Allerdings scheint die Handlung des Buches sorgfältig geplant, und humorvolle Stellen sind diesmal dünn gesät. In Erinnerung bleiben höchstens der Markenname einer Marihuana-Zigarette (nämlich "Land des Lächelns") sowie der goldene Hosen-Reißverschluss des Firmenbesitzers Wyndam-Matson (der drastisch symbolisiert, dass Geld sexy macht).
Wenn man Leute nach ihrer Meinung zum Orakel fragt, äußern sich die einen begeistert und die anderen waren gelangweilt. Ich schätze, ich liege irgendwo in der Mitte ...