Serie / Zyklus: ~ Besprechung / Rezension von Erik Schreiber |
Welche Visionen deutsche Autoren haben, schildern sie uns in einer neuen Anthologie. Dabei handelt es sich nicht um flüchtige Tagträume oder Phantasien kurz vor dem Erwachen, niedergeschrieben als unwirkliche Notizen. Nein, siebzehn Autoren haben sich Gedanken um die Welt gemacht, griffen vielleicht spontane Ideen auf und formten aus ihren Gedanken detailreiche und klug geschilderte Geschichten des Möglichen und zum Teil auch Unwirklichen.
Helmuth W. Mommers Anthologie bietet Unterhaltsames und Nachdenkliches. Exemplarisch ist dieser Band für die Tatsache, dass die Phantastik und vor allem die Science Fiction nichts mit Raumschiffen und Lasergefechten zu tun haben muss. Autoren wie Andreas Eschbach, Thorsten Küper oder Karl Michael Armer lassen ihre Geschichte aus den Wurzeln des Heute wachsen und schildern dem Leser was denkbar ist und wo Probleme wie auch Chancen sich in der Zukunft verbergen.
Der von Romane wie Das Jesus-Video, Eine Billion Dollar oder Der letzte seiner Art bekannte Andreas Eschbach zeigt, dass jeder unerwünscht weggeworfene Müll zu seinem Verursacher zurückkommt. Da erfindet der Herr Steinbach in Quantenmüll ein seltsames Feld, das jeden Gegenstand schluckt. Ohne zu wissen wie es funktioniert, lässt er alles darin verschwinden und vermarktet es sogar. Bis ein anderer herausfindet, dass sich dieses Feld zu einem bestimmten Zeitpunkt auflösen wird. Und was dann passiert, weiß niemand. Und so bangt man der Singularität entgegen und hofft, all die Büropapiere, Abfälle, Chemikalien, Abgase und viele andere Dinge würden dort bleiben, wo sie gerade sind. Eschbachs Herr Steinbach bleibt leider ziemlich konturlos, trotz der verwendeten Ich-Form. Es ist eine "augenzwinkernde Utopie" wie Mommers meint. Und der große Schlamassel kommt am Ende. Quantenmüll ist humorvoll tragisch und ein gelungener Einstieg in die Visionen 2004.
Kriegerischer geht es bei Helmuth W. Mommers "Universal Soldier" zu. Zwar kämpfen die tapferen Soldaten gegen außerirdische Monster, der Schwerpunkt liegt aber auf der stetigen Wiederbelebung der Frontmänner. Und letzten Endes mit einer Black Box ausgestattet, lassen sich alle Informationen für den nächsten Kampf wiederverwenden. Ob das nun optimistisch oder bedenklich sein soll, bleibt bei Mommers vage. Auf jeden Fall will der Soldat lieber sich ins Schlachtengetümmel stürzen und nicht am Schreibtisch sterben.
Einen interessanten Aspekt schlägt Karl Michael Armer in "Die Asche des Paradieses" an. In einem alles vernichtenden Krieg, dessen Irrsinn schon Normalität ist, muss einer den Mut zum Frieden haben. Vielleicht etwas vereinfachend, aber folgerichtig muss eine Seite sich dem Waffengang verweigern. Ob hierzu der Tyrannenmord der richtige Weg ist, mag der Leser nachdenken.
Herrlich absurd, humorvoll und zuweilen bedrückend schildert Marcus Hammerschnitt die Reise des Herrn Reinhold Messner in Harmagedon, der den dritten Weltkrieg auf der Insel Fünen überlebt hat. Messner (Physiker, "nicht verwandt, nicht verschwägert") tritt eine Reise nach Odense an, um zu sehen wer noch existiert. Die althergebrachte Flora und Fauna ist durch riesige Tiere, schwankende Palmen und wandernde Teppiche abgelöst worden. Und das nur wenige Tage nach dem Schicksalstag. Die Farben von Wasser, Boden und Gebäuden ist nun völlig anders. Keiner Menschenseele begegnet Messner und allen Gefahren entkommt er mit heiler Haut. Letztere hat einen hellroten Farbton angenommen, wie bei reflektierenden Warnschildern, aber seiner Gesundheit scheint es nicht abträglich zu sein. Da er in Odense niemanden gefunden hat, beschließt Messner nach Kopenhagen zu fahren. Nicht morgen oder übermorgen, eines Tages aber gewiss.
Helmuth W. Mommers möchte seine Anthologie als Bereicherung der (Science fiction) Szene verstehen. Die Anthologie enthält die Geschichten etablierter und professioneller Autoren. Tatsächlich sind wunderbare Erzählungen vorhanden und nicht jeder Leser muss alle mögen. Manche Erzählungen könnten besser ausformuliert sein hinsichtlich ihrer Ideen. Und so sind selbst bekannte Autoren nicht die Alleskönner, wie sie oft dargestellt werden. Mommers, fragt, wo die Utopie geblieben sei und verweist auf düstere Zukünfte, die heute gemalt werden. Dabei hat bereits im Jahr 1992 Michael Salewski auf das Nichtvorhandensein positiver Utopien hingewiesen. Ob der Herausgeber nicht Alternativen hätte aufzeigen können? Auf jeden Fall verstehen es die hier präsentierten Autoren jeder Situation etwas abzugewinnen, ob nun Erheiterndes, Philosophisches oder Grüblerisches. Die Visionen 2004 sind ein wunderbarer und faszinierender Erzählband zum Jahresende und darüber hinaus.
Das schöne umlaufende Titelmotiv hat Julio Viera gemalt, über den es einen kleinen Bericht zu lesen gibt. Zum einen macht es Spaß in die Visionen einfach hineinzulesen. Und zum anderen präsentiert Mommers eine ausgewogene Sammlung interessanter Texte, die bei aller Unterschiedlichkeit gut zueinander passen. Weiter oben steht, dass Visionen 2004 als Bereicherung der Szene gedacht ist. Ich möchte hinzufügen, dass auch Leser, die bisher keine Science Fiction kennen, zu diesem Buch greifen sollten. Empfehlenswert!
Inhalt | ||
Seite | Geschichte | Autor |
7 | Vorwort | Helmuth W. Mommers |
9 | Quantenmüll | Andreas Eschbach |
23 | Der Atem Gottes | Thorsten Küper |
39 | Alter Ego | Ralph Doege |
56 | Im Netz der Silberspinne | Myra Cakan |
66 | Desiderius Felix | Erik Simon |
82 | Parkers letzter Auftrag | Andreas Gruber |
99 | Relicon | Michael Marrak |
119 | Nur eine Infektion | Herbert W. Franke |
122 | Case Modding | Jan Gardemann |
128 | Die unbefleckte Empfängnis | Rainer Erler |
147 | Die unwiderlegbare Wahrheit | Uwe Hermann |
161 | Universal Soldier | Helmuth W. Mommers |
169 | Das Sterben der Engel | Robert Kerber |
176 | Motormond | Jörg Isenberg |
193 | Jagdausflug | Malte S. Sembten |
204 | Die Asche des Paradieses | Karl Michael Armer |
224 | Harmagedon | Marcus Hammerschmitt |
250 | Über den Maler Julio Viera |