Serie: Chimaira 1887, Band 1 |
Für die sechsjährige Chimaira ist das idyllische ländliche Leben vorbei, als ihre Mutter stirbt und nunmehr niemand länger Geld für ihre Unterbringung bei Madame und Monsieur de Montpessus aufbringen kann. Nachdem sie rund sieben Jahre im Haushalt ihrer Zieheltern gelebt und gearbeitet hat, verkaufen dieses das mittlerweile dreizehnjährige Mädchen nach Paris an Madame Giselle, die skrupellose Besitzerin des berühmt-berüchtigten Bordells „Die Purpurrote Perle“, ein gehobenes Etablissement, in der 1887 die illustren Herren der Stadt ein- und ausgehen, um Entspannung und mehr zu suchen.
Noch bevor Giselle die Jungfräulichkeit Chimairas unter der lüsternden Klientel versteigern kann, macht ihr das Mädchen ein überraschendes Angebot: sollte es ihm gelingen, den Kaufpreis für sich in die Höhe zu treiben, erlässt ihm die Madame im Gegenzug einen Teil der Schulden, die in Folge des Kaufs, der Unterbringung und der Ausstattung auf Chimaira lasten und die es fortan als Hure abzuarbeiten hat. Überrascht von der Frechheit sowie dem eisernen Willen des Kindes willigt Giselle ein, nur um Chimaira nach erfolgreicher Versteigerung um den verdienten Lohn zu bringen. Für das Mädchen bleibt das nicht die einzige Enttäuschung: auch wenn sie in der belesenen, freundlichen Marguerite einen Art Mentorin findet, so ist das Leben im Bordell von Intrigen unter den Huren, rücksichtslosen, brutalen Freiern sowie dem gnadenlosen Regiment Giselles und ihres tumben Handlangers Ferdinand geprägt, ein Leben, in dem eine Schwangerschaft das Schlimmste ist, was einer Frau widerfahren kann.
Doch statt an all den Widerwärtigkeiten zu zerbrechen und resignieren, entscheidet sich Chimaira, für ihre Freiheit zu kämpfen und ihre Vorzüge als Waffe im Kampf einzusetzen.
Auch wenn das Setting unterm Strich nicht ganz neu ist und nicht nur an Filme wie „Pretty Baby“ oder Vincents Comic-Serie „Albatros“ erinnert und auch wenn Chimaira rein optisch eine frappierende Ähnlichkeit mit Ombeline, der Hauptprotagonistin eben jener Reihe aufweist, so ist Chimaira ein von Beginn an fesselnde Serie.
Zum einen gelingt den beiden Autoren - Arleston und Melanÿn – nicht nur das Sittengemälde einer dekadenten, skrupellosen Gesellschaft, sondern sie betten dieses Gemälde auch in einen historisch stimmigen, politischen Kontext. Der mit Tausenden von Toten, Intrigen und finanziellen Unregelmäßigkeiten einhergehende Versuch Frankreichs, mit dem Panamakanal ein Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik quer durch den Isthmus von Panama zu treiben, oder der unter der Pariser Bevölkerung heftig umstrittene Bau des Eiffeltums bilden nicht nur einfach einen Rahmen für die kleinen und größeren Dramen in und um die „Purpurrote Perle“, sondern wirken sich auf das Leben der Protagonisten mehr oder weniger direkt aus. Bedauerlicherweise ist auf Seiten der Handlungsträger ausgerechnet Chimeira die Figur, die kaum erklärt und damit in ihrer Motivation nicht nachvollziehbar ist, während viele der Nebenfiguren selbst in ihren kurzen Auftritten vergleichsweise stark wirken.
Grandios und über jeden Zweifel erhaben ist hingegen Vincents Artwork: in seiner unverkennbaren sachte kantigen Handschrift mit ihren leicht zitterigen, unsicher-grazil wirkenden Konturen entwirft er dynamische, oftmals geradezu opulent wirkende Bilder, die durch Pierots farbenprächtige Koloration die passend dekadente – oder zuweilen auch schmutzig-düstere - Atmosphäre atmen.
Fazit: Ein spannendes Sittengemälde, das sich nicht auf die kleine zwischenmenschliche Dramen beschränkt, sondern auch den historisch-politischen Kontext unterhaltsam einbindet, sowie ein opulentes, visuell fesselndes Artwork machen dieses erste Chimeira-Album vielleicht nicht zu einem echten Comic-Highlight, aber dennoch zu einer bedenkenlosen Empfehlung.