Serie: Miss Endicott, Band 1 Eine Besprechung / Rezension von Frank Drehmel |
Anlässlich des Todes ihrer Mutter kehrt die junge Patricia Endicott von einer langen Reise, die sie in fremde Länder führte, in die englische Metropole zurück, um die Rolle der Verstorbenen als „Schlichterin“ einzunehmen. In dieser nicht offiziellen Funktion kümmert sich sich um die Probleme, um die Sorgen und Nöte der Armen und einfachen Leute.
Während sie tagsüber als Gouvernante in Mister Foleys städtischem Haus den Spross der Familie, den kleinen Kevin, beaufsichtigt und bei Laune halten muss, schleicht Patricia des Nachts in ihr zweites Leben, in ein kleines, geducktes Häuschen inmitten eines ärmlichen Viertels, in dem der freundliche, knorrige und kauzige Privatsekretär Wallace auf sie wartet.
Auf ihren ersten Fall muss sie nicht lange warten: Mrs. Parks klopft an ihre Tür und berichtet der jungen Frau von nächtlichen Geräuschen vor bzw. unter ihrem Haus, die sie und ihren Mann zu Tode ängstigen. Mrs. Endicott verspricht ihr, sich des Falls anzunehmen, und beginnt ihre Ermittlungen in der Stamm-Taverne des smarten Gauners Quilby, den sie für den Täter hält.
Bevor sie jedoch zu Quilby vorgelassen wird, muss sie sich bei den grobschlächtigen Tavernengästen den Respekt erstreiten, den ihre Arbeit als Schlichterin grundsätzlich erfordert. Nach einer kurzen, aber schmerzhaften Demonstration ihrer „Künste“ trifft sie den ehrenwerten Gauner, der sich trotz seines zweifelhaften Leumunds als alter Freund ihrer Mutter herausstellt, glaubhaft bestreitet, der Täter zu sein, und der Patrica seine unterweltliche Hilfe zusagt.
Ihre weiteren Ermittlungen führen sie schließlich in die Unterwelt Londons, in die Tunnel und Gänge unter der Stadt, in eine Welt, in der die „Vergessenen“, unbeachtet von den Oberirdischen, ein hartes, aber bisher friedliches Paralleldasein fristeten.
Patricia findet heraus, dass eine geheimnisvolle Macht im Hintergrund ihre Fäden zieht, um jene „Vergessenen“ in die Revolution gegen die oben Lebenden zu treiben.
Für das deutsche Publikum dürfte der Szenarist Jean-Christophe Derrien eine eher unbekannte Größe sein, auch wenn der 1971 geborene Autor auf eine Reihe von Veröffentlichungen und Arbeiten innerhalb der „Comic-Szene“ sowie des Trickfilms zurückblicken kann, da „Miss Endicott“ als einzige seiner Serien bisher auf Deutsch erschienen ist.
Ein klein wenig anders sieht es in Bezug auf den Zeichner Xavier Fourquemin und die Koloristin Scralett Smulkowski aus, denn ihre Arbeit kann der deutsche Leser schon in der ebenfalls vom Piredda Verlag herausgegebenen Alben-Reihe „Die Legende vom Changeling“ genießen, wobei eine gewisse Ähnlichkeit zwischen beiden Serien im grundsätzlichen Handlungshintergrund - London des ausgehenden 19. Jahrhunderts; Fokus auf die schmutzigen Seiten der Stadt - nicht verleugnet werden kann. Allerdings beschreibt Derrien einen deutlich weniger metaphysischen Weg als der Szenarist Pierre Dubois, denn Miss Endicott ist konzeptionell eine klassische Detektiv- respektive Abenteuergeschichte mit leicht sozialkritischem Einschlag. Das Ungewöhnliche, das Geheimnisvolle fließt nicht in Form überirdischer Mächte in die Story, sondern resultiert aus den Andeutungen über Patricias exotische Herkunft und Vergangenheit, über die der Leser um der Spannung Willen weitgehend im Unklaren gelassen wird.
Die leicht surreale, phantastische, märchenhafte Note ergibt sich daher in erster Linie aus den atmosphärisch äußerst stimmigen und eigenständigen Zeichnungen Xavier Fourquemins, aus den schrägen, überzeichneten und markanten Gesichtern der Protagonisten, den perspektivisch leicht kippenden Fassaden der Häuser sowie der mit ihren dominierenden Braun- und Grautönen gedämpften Koloration Smulkowskis.
Fazit: ein origineller, abenteuerlicher Historien-Krimi mit Steampunk-Elementen und einem sachten Fantasy-Einschlag, der durch Zeichnungen wie Koloration grandios visualisiert ist.