Titel: Ein Frühling in Tschernobyl Eine Besprechung / Rezension von Frank Drehmel |
Als sich am 26. April 1986 im Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyls jene Katastrophe ereignete, die nicht nur die Sicht vieler Menschen auf die zivile Nutzung der Kernenergie änderte, sondern die auch massive Auswirkungen auf Mensch und Umwelt zeitigte, war relativ schnell klar, dass die Gegend um Tschernoby – und hier insbesondere die ehemals prosperierende und für ukrainische Verhältnisse reiche Stadt Prypjat – für viele Dekaden ein kontaminiertes Territorium sein wird.
Zweiundzwanzig Jahre später reist der Künstler und Autor Emmanuel Lepage in Begleitung einiger Künstler – Anti-Atomkraft-Aktivisten - im Auftrag oder vielmehr auf Bitte des Vereins „Les Dessin'acteurs“ in die Ukraine, um das immer noch präsente Grauen bzw. die Monstrosität der Katastrophe in Bildern - Zeichnungen und Aquarellen – einzufangen.
„Ein Frühling in Tschernobyl“ ist gleichsam das Ergebnis, das grafische Tagebuch dieser Reise, wobei allerdings gerade zu Beginn unterschiedliche Betrachtungsebenen ineinander übergehen, indem Lepage Erlebtes mit angelesenen Fakten vermischt und so nochmals einen Rückblick auf die Katastrophe liefert, wobei sein Augenmerk weniger auf dem technischen Ablauf liegt, sondern viel mehr auf den damaligen unterschiedlichen nationalstaatlichen Reaktionen sowie den gesundheitlichen Auswirkungen. Chronologisch beginnt das Tagebuch mit der Anreise und dem Tag der Ankunft im kleinen ukrainische Ort Wolodarka am 29.April, wo die Gruppe nahe Tschernobyl Quartier nimmt, und endet mit der Rückkehr nach Paris am 15. Mai 2008, wobei die Reisevorbereitungen – beginnend bei den ersten Gesprächen mit den Vertretern von „Les Dessin'acteurs“ im November 2007 – in Rückblenden eingeflochten sind. Über die bloße Bestandsaufnahme, die Dokumentation der aktuellen Zustände vor Ort, der Befindlichkeiten der einheimischen Bevölkerung, ihrer Art des Arrangements – z.B. Verdrängen der Gefahr und Plündern der Ruinen Prypjats - mit dein Einschränkungen, die ein Leben in oder nahe einer atomar verseuchten Gegend mit sich bringt, des Bürokratismus, der medizinischen und technischen Zwänge sowie dem Status Quo der Natur selbst hinaus, liegt der Schwerpunkt des Tagebuchs auf den Innenansichten des Autors, seinen mal rationalen, mal irrationalen Ängsten, seinen Zweifeln und Reflexionen, den physischen und psychosomatischen Auswirkungen, die dieses Projekt auf ihn hat.
Das Comic-Reisetagebuch hinterlässt einen ambivalent Eindruck: in künstlerischer Hinsicht weiß Lepage durchweg zu überzeugen: mittels Wachsmalstiften, Kreide, Kohle und Aquarellfarben erschafft er expressive, einerseits düster-monochrome Bilder, denen eine Atmosphäre des Verfalls, des Todes innewohnt, und stellt ihnen andererseits in weichen, bunten Aquarellfarben die Lebendigkeit der Menschen und der Natur gegenüber. In Visueller Hinsicht biete das Album also eine Fülle an Highlights, an Formen, Farben, Strukturen, an überwältigenden Perspektiven und genau beobachteten Porträts.
Das Problem ist: lässt man sich auf das Artwork ein, rückt der ohnehin schon nicht sonderlich fesselnd geschriebene Text noch weiter in den Hintergrund. Jemand, der mit der Tschernobyl-Thematik vertraut ist und die eine oder andere TV-Dokumentation gesehen hat – z.B. „Tschernobyl – 25 Jahre nach dem Super-Gau“ - bietet der Band wenig neue Hintergrundinformationen; und um das Seeleninnenleben des Autors spannend oder auch nur interessant zu finden, fehlt es mir persönlich an Empathie und Sympathie für ihn. Abgesehen von einigen Reflexionen Lepages über das Wesen seiner Kunst und den manipulativen Charakter von Bildern, lässt sich nur wenig intellektueller Nektar aus dieser Tschernobyl-Blüte saugen.
Fazit:
Einem exzellenten, expressiven Artwork steht ein tendenziell schwafeliger Inhalt ohne großen Neuigkeits- bzw. Erkenntniswert gegenüber. Wem wahrhaft grandiose Bilder reichen, der sollte dennoch zugreifen.