Serie/Zyklus: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Denis Johnson ist in den letzten Jahren mit Büchern wie Engel, Jesus' Sohn und vor allem Schon tot zu einem der angesehensten amerikanischen Schriftsteller avanciert, sodass mittlerweile auch seine weniger bekannten Bücher in Deutschland in Taschenbuchausgaben veröffentlicht werden. So auch Fiskadoro, ein Endzeitroman, der zwei Generationen nach dem atomaren Weltkrieg spielt. Etwa im Jahre 2060 stellen die Florida Keys den südlichsten Bereich einer radioaktiv verseuchten Quarantänezone dar, die einmal Nordamerika war. Hier, auf diese Inselgruppe zwischen Miami und Kuba, haben sich die Reste der menschlichen Zivilisation geflüchtet und harren des Tages, an dem die ferne kommunistische Republik Kuba sie endlich für radioaktiv unbedenklich erklären wird.
Da sind zum einen die Bewohner von Key West - das jetzt "Twicetown" heißt wegen der zwei Atomraketenblindgänger, die immer noch als Mahnmal in der Gegend herumliegen. Die Einwohner des Ortes leben in den zerfallenden Überresten der einstigen High-Tech-Gesellschaft, betreiben die noch funktionierenden Motoren mit verstrahltem Benzin und hören abends Radio Cuba. Nicht weit davon entfernt hausen auf einem "Army" genannten ehemaligen Militärgelände Fischerfamilien in ihren Hütten am Strand. Nördlich der Insel gibt es in den verlandeten Sumpfgebieten auf archaischem Niveau dahinvegetierende Stämme, die seltsame Voodoo-Riten praktizieren und angeblich sogar Menschen fressen. Und auch überall sonst sprießen und gedeihen Aberglaube und Spiritualismus, Abarten der alten monotheistischen Religionen und neue Götter wie Jimi Hendrix oder Bob Marley.
Johnsons Roman hat zwei Protagonisten und mindestens zwei wichtige Nebencharaktere: Fiskadoro ist ein am Ende 14-jähriger Junge, der mit seiner Familie in Army lebt. Er entwickelt im Verlauf des Buches eine Art Vater-Sohn-Beziehung zu der eigentlichen Hauptperson des Romans, Anthony Cheung, einem der letzten Bildungsbürger in einer Zeit, in der sich niemand mehr daran erinnert, wie die Welt vor der Katastrophe aussah. Cheung versucht seinen Nachbarn in Twicetown zu helfen, spielt meisterhaft die Klarinette und hat das "Miami Sinfonieorchester" gegründet, eine Kapelle, in der alle mitspielen dürfen, die überhaupt noch ein Instrument besitzen. Außerdem ist Cheung eines von fünf Mitgliedern der "Twicetowner Wissensgesellschaft", einem Grüppchen, das auf rührend hilflose Weise versucht, mithilfe der wenigen verbliebenen Bücher die Zeit vor dem Untergang zu rekonstruieren. Cheung ist besessen von der Vergangenheit. Er ist der typische melancholische Intellektuelle, um den herum alles, was ihm teuer ist, zusammenbricht und die meisten Menschen nur noch ein schwer verständliches Pidgin-Englisch sprechen. Erst gegen Ende akzeptiert er die Aussichtslosigkeit seines Tuns und findet Befriedigung darin, einfach sein Bestes gegeben zu haben. Anthony Cheung ist eine der sympathischsten Figuren des Romans, aber wohl nicht die interessanteste. Auch von Fiskadoro kann man das nicht behaupten. Der Junge ist kaum fähig sich zu artikulieren und bleibt dem Leser als Person weitgehend fremd. Dass er dem Roman seinen Titel gibt, liegt ausschließlich in seiner Funktion als Symbolgestalt. Doch dazu später mehr.
Fiskadoro ist ein Roman, der ohne durchgehende Geschichte eine stagnierende Welt nach dem Ende der Geschichte beschreibt. Das kann dazu führen, dass das Erzähltempo sich zuzeiten fast bis zu einem bleiernen Stillstand verlangsamt. Andererseits gelingen Johnson aber auch anrührend tragische Passagen und solche von mitreißender Dramatik, und zwar dann, wenn Johnson ganz konkret von den Schicksalsschlägen in Fiskadoros Familie erzählt bzw. von der Zeit vor dem Ende der Zeit. Die Art, wie Fiskadoros Mutter sich mithilfe ihrer Nachbarinnen, einer Menge Stoizismus sowie Kartoffelschnaps ihrem Brustkrebs und "Oberstmajor Overdoze" (der Endzeitversion des Sensenmanns) stellt, verleiht ihr menschliche Größe. Und dann ist da noch Marie Wright, die mittlerweile über hundertjährige Großmutter Anthony Cheungs. Sie ist sicher der Lieblingscharakter des Autors, auf jeden Fall aber wohl der einzige lebende Mensch, der sich noch an die alte Welt erinnert. Zu Anthonys großer Verzweiflung ist sie jedoch meist geistig verwirrt, sitzt nur in ihrem Schaukelstuhl und spricht nicht mehr. In einem ihrer klaren Momente lässt Johnson sie noch einmal den (aus US-amerikanischer Sicht des Kalten Krieges) Anfang der großen Katastrophe miterleben - das Trauma der Niederlage in Vietnam. Wie die sechzehnjährige Marie beim Untergang Süd-Vietnams in größter Not Saigon entflieht und anschließend, ohne Rettungsweste, drei Tage lang im Chinesischen Meer n i c h t ertrinkt, ist ganz große Literatur.
Noch einmal zurück zum Titel: Auf den ersten Seiten des Buches meldet sich zweimal ein anonymer Ich-Erzähler, der offenbar lange nach den Ereignissen des Romans lebt und dessen Absicht es ist, über den Heilsbringer Fiskadoro zu berichten. Durch diesen Kommentar ist die Endzeitgeschichte, streng genommen, keine Endzeitgeschichte mehr. Außerdem bringt Johnson unnötigerweise den Aspekt der religiösen Erlösung ins Spiel. Beides zusammen beraubt das Buch um einen Teil seiner Wirkung. Als Fiskadoro fast 14 Jahre alt ist, lässt er sich allein ins Sumpfland locken. Dort durchleidet er in einem primitiven Initiationsritus ein nicht enden wollendes Drogendelirium und verliert in dessen Folge seine Erinnerung. Auf der symbolischen Ebene kommt das einer Wiedergeburt gleich. Der Junge wirft allen 'Ballast' der Vergangenheit ab und wird frei, sich ganz der Zukunft zuzuwenden. Warum das für die Menschheit ein Gewinn sein soll, macht der Roman leider nicht deutlich.
Der Eindruck, den Fiskadoro hinterlässt, ist sicher uneinheitlich; in seinen besten Momenten erklimmt das Buch aber stilistische Höhen, die die Genre-SF kaum je erreicht.