Serie: Erster (in sich abgeschlossener) "Arcadia"-Roman Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Dieses Titelbild ist ganz schaurig, aber hören Sie jetzt bitte nicht auf zu lesen. Der äußere Schein täuscht! Das Buch liest sich ganz toll und ist heute völlig zu unrecht vergessen.
Fast alle 12 Illustrationen von Mark van Oppen wären coloriert schöner und inhaltlich treffender gewesen als die haushohen Wellen und abstrakten Wolkenkratzer von Karel Thole. Beides kommt in dem Roman Flut von Michael G. Coney, der 2005 im Alter von 73 Jahren einem Krebsleiden erlag, so gar nicht vor. Vielmehr spielt das Buch in einem Fischerdorf, das, ließe man hier und da ein paar typische Science-Fiction-Versatzstücke beiseite, ebenso gut in Devon beheimatet sein könnte. Genauso wie seine Bewohner (allesamt mit englisch klingenden Namen), die sich nach getaner Arbeit im Pub treffen und das eine oder andere Bier stemmen. Ähnliche Dörfer finden sich in mehreren von Coneys Romanen. 1972 wanderte er, nach einem Umweg über Antigua, nach Kanada aus, wo er auf Vancouver Island auch immer den freien Blick aufs offene Meer hatte. Doch jetzt zum Inhalt des Buches:
Arcadia ist eine zu 90 Prozent von Wasser bedeckte Welt, auf der erst vor wenigen Generationen menschliche Siedler landeten. Sechs Monde umkreisen den Planeten, und nur einmal in 52 Jahren geschieht es, dass alle gleichzeitig am Himmel erscheinen. Dies führte beim letzten Auftreten des Phänomens zu extremen Gezeitenwechseln und - einem Umsichgreifen von Mord und Totschlag unter den ersten Küstensiedlern, das sich keiner der Beteiligten später erklären konnte.
Als die nächste Zeit der großen Flut herannaht, erinnert sich in dem kleinen Fischerdorf Riverside (Einwohnerzahl: 500) niemand mehr an die große Katastrophe. Die örtlichen Fischer beschäftigt etwas ganz anderes: Seit fünf Jahren betreibt der Meeresbiologe Prof. Mark Swindon (32) eine Fischzucht-Forschungsstation vor der Küste, die die Einheimischen auf lange Sicht wohl um ihren Broterwerb bringen wird. Aus diesem Grunde stehen ihm viele Menschen in Riverside feindlich gegenüber.
Doch das ist nicht das einzige Problem des jungen Mannes, der nach getaner Arbeit regelmäßig in der Dorfkneipe und seinem Selbstmitleid versumpft. Vor sechs Monaten verunglückte seine Braut Sheila drei Tage vor der geplanten Hochzeit bei einem Sturz von den Uferklippen. Swindon kann sich einfach nicht aus seiner Trauer lösen. Auch Sheilas jüngere Schwester Jane (19), die ihm so hilfreich wie scharfzüngig zur Seite steht, ist machtlos.
Bei seinen Vorbereitungen auf die Flut bemerkt der Forscher, dass sich Unmengen von arkadischem Plankton (millimetergroße, Garnelen ähnliche Tiere) in den Küstenuntiefen ansammeln. Dort ballen sie sich zu großen, kugelförmigen Objekten und pflanzen sich fort. Zusammen mit dem von der Regierung nach Riverside entsandten Psychiater Arthur Jenkins findet Swindon heraus, dass die Kugeln beginnen, ein eigenes Bewusstsein zu entwickeln, und die so genannten Schwarzfische (das arkadische Pendant zum Hai) dazu benutzen, sich gegen jeden Angreifer zu verteidigen.
Als die Geisteskräfte des Planktons immer weiter zunehmen, entdecken die Siedler, dass sie plötzlich die Gedanken ihrer Mitmenschen lesen können und deren Emotionen ungebremst auf sie einbranden. Seine Gefühle zu verheimlichen ist jetzt nicht mehr möglich. Bald ist klar, wer wen liebt und wer wen hasst. Viele Menschen werden mit dieser Situation nicht fertig. Häuser brennen und Menschen sterben. Lynchmobs ziehen durchs Dorf. Und noch haben die Planktonkugeln nicht das Ende ihrer Entwicklung erreicht ...
Michael Coneys Buch beschreibt u.a. die Lösung eines ökologischen Rätsels, das in dieser Form in unserer Realität nicht auftreten könnte. Alles andere an dem Roman dürfte dem Leser Anfang der siebziger Jahre wohlbekannt gewesen sein. In Riverside geht man abends in die Kneipe, raucht, trinkt, hört Radio, besitzt einen Gasherd und benutzt als Fischer einen Trawler. Coneys Rechtfertigung für diesen Umstand ist, dass sich junge Kolonien keine Hightech leisten können. Hard-SF-Leser werden diese Begründung womöglich für vorgeschoben halten, aber mich hat sie nicht gestört. In Coneys Romanen geht es nie primär um die Technik von Morgen. Der Autor Eric Brown, wie ich ein langjähriger Fan des Altmeisters, drückte es letztes Jahr (in seinem Vorwort zu Coneys postum erschienenem Roman I Remember Pallahaxi) so aus:
"[Michael Coney] wrote satisfying, entertaining stories about real human beings, with excellent plots, great ideas and neat resolutions [Auflösungen]. (...) Michael eschewed [vermied] sensationalism; his novels were not action-adventure or militaristic, and nor were they filled with gratuitous [überflüssigem] sex or violence. He didn't write hard-SF, but quiet novels in which the emotions of his characters were paramount [die Hauptsache]."
In Flut kann man sicher nur den Ich-Erzähler Mark Swindon als 'runden' Charakter bezeichnen. Von den meisten anderen Personen erfährt man entweder zu wenig oder sie entstammen Coneys 'Typenrepertoire': In den Romanen und Storys des Autors kommen z.B. immer wieder exzentrische, aber auch lebenserfahrene ältere Damen vor (hier: Mrs. Earnshaw, die reichste Frau des Ortes) sowie zwei Sorten von 'love objects': die (letztlich unerreichbare) blonde Traumfrau (hier: Sheila, die schon nach dem Prolog aus dem Buch verschwindet) und die patente Brünette (Jane). Trotzdem sind es gerade die Menschen, die mir in Coneys Büchern gefallen: All ihre Typenhaftigkeit (die neben dem einfachen Schreibstil die Lektüre sehr erleichtert) nimmt ihnen doch nie das Menschliche und gibt dem Autor gleichzeitig die Gelegenheit, hier und da komische Momente einzustreuen. Eine meiner Lieblingsszenen in dieser Hinsicht findet sich gleich im Prolog, wenn Mark Swindon einen Discoabend beschreibt:
"Mein Auge fiel auf einen jungen Mann; mit Interesse beobachtete ich, wie er im Kreis seiner kleinen Gruppe herumstolzierte, sein Gesicht rosa und schweißüberströmt, und wie er diesen Moment großer Freude auskostete, der nur noch davon zu überbieten war, daß er selbst ins Kreisinnere trat. Nach zwei Fehlstarts kam seine Chance, und er tänzelte nach vorne mit hocherhobenen Armen, hüpfte und zeigte sich, während er falsetthohe schrille Schreie ausstieß wie ein mißhandelter Hund."
Dieses Zitat deutet eine typische Eigenschaft coneyscher Protagonisten an: Sie sind eher Einzelgänger, mit einem skeptischen Menschenbild. Mark Swindon (und sein Autor?) glaubt, dass letzlich alles menschliche Handeln eigennützig ist, und wir als Teil einer Gruppe leicht zum "Tier" regredieren. Trotzdem aber haben die unter uns mit der Fähigkeit zur Selbstanalyse - und mit ethischen Wertvorstellungen - immer die Chance, ihre tierischen Instinkte zu beherrschen. Der instinktive Schwulenhasser Mark Swindon etwa verbündet sich aus bessere Einsicht mit dem Schwulen Arthur Jenkins, während die große Bevölkerungsmehrheit ihre Aggressionen auslebt und die populistischen Politiker in der fernen Hauptstadt ihre chemischen Kampfstoffe aus den Depots holen.
Wenn man, wie Eric Brown und ich, Coney-Romane mehrmals liest, fällt einem womöglich Folgendes auf:
"One of the delights of reading a Coney story or novel - perhaps on the second reading, having been dragged along helter-skelter [Hals über Kopf mitgerissen] through the first reading - is the appreciation of the story's shapes and balance..." "[Clues] dropped in the first few pages are picked up ... later in the tale; ... nothing at all is wasted, and ... whatever is unnecessary is ruthlessly [schonungslos] cut."
Michael Coney hat der Nachwelt also keine dicken Wälzer hinterlassen. Fast immer sind seine Bücher minutiös vorausgeplant, ausgehend vom Ende, das er gewöhnlich zuerst schrieb, und bei der Zweitlektüre fallen dem Leser die zahlreichen Hinweise auf, die ihm beim ersten Mal oft entgingen. Coney schrieb kurze, intelligente Schmöker von geringem literarischem Wert. Wenn Ihr Geschmack sich von meinem unterscheidet, kann es sehr wohl passieren, dass Sie bei der Erstlektüre von Michael Coney denken: "Warum hat dieser Rezensent so viel Aufhebens um dieses Durchschnittsbuch gemacht?" Wenn Sie seinem Werk dennoch eine Chance geben mögen, kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung den zweiten Riverside-Roman, Brontomek!, empfehlen, sowie die zwei im selben Universum angesiedelten Bücher Charisma und The Flower of Goronwy (letzteres gibt's gratis online). - Und dann ist da noch Coneys beliebtester Roman, Der Sommer geht, der von der British Science Fiction Association zum besten britischen SF-Roman der siebziger Jahre gewählt wurde. Zum Schluss ein letztes Mal Eric Brown:
"If you have never before read Michael Coney, you have many hours of pleasure in store, and I envy you."