Serie: Kraa, Band 1 Eine Besprechung / Rezension von Frank Drehmel |
In einem abgelegenen Tal am Ende der Welt zwischen Alaska und Sibirien erblickt zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Adler Kraa das Licht der Welt. Die Gnadenlosigkeit des Lebens und die Notwendigkeit des Tötens fest im Genom verankert stößt er seinen Bruder aus dem Nest, um die knappe Nahrung nicht teilen zu müssen. Als seine Eltern irgendwann nicht zurückkehren, muss er das Nest vorzeitig verlassen und auf sich alleine gestellt das Jagen lernen, will er überleben.
Der junge Eingeborene Yuma, der seine Ferien vom Internat in den heimatlichen Wäldern und Tälern verbringt, sowie sein Großvater werden Zeugen der ersten vergebliche Jagd-Versuche Kraas. Auf eine geheimnisvolle Weise zu dem Jungadler hingezogen beschließt Yuma, das Tier zu füttern, muss aber schon bald einsehen, dass Kraa keine Hilfe benötigt.
Das sorglose Leben in der idyllischen Natur, das nur noch in der Vorstellung des naiven Yumas, nicht jedoch in der des Großvaters oder der anderen Dörfler, existiert, wird eines Tages durch Prospektoren, Kartographen und weiße Söldner gestört, die aus ihrer prosperierenden Stadt – Klontown - an der Mündung eines Flusses auf der Suche nach Erdöl, Diamanten, Gold und Gas in das von Weißen weitgehend unberührte Hinterland aufgebrochen sind.
Weil sie in sein Jagdrevier eindringen und wahllos aus reiner Lust am Schießen Wild erlegen, tötet Kraa einen von zwei Kundschaftern, wird bei der Aktion allerdings selbst verletzt. In einem Traum erlebt Yuma das Geschehen mit und bricht trotz der Warnungen seines Großvaters Hals über Kopf auf, um dem Tier zu helfen, mit dem er auf eine seltsame Art geistig verbunden scheint. In der Tat dauert es nicht lange, bis Junge und Vogel aufeinandertreffen und Kraa Yuma als Bruder akzeptiert.
Während der Junge den Adler versorgt, metzeln die weißen Eindringlinge Yumas Leute – darunter auch seine kleine Schwester und den Großvater – nieder. Als er die Schüsse hört, eilt Yuma voller Angst zurück ins Dorf, kann aber nur noch mit ansehen, wie die Männer versuchen, die Leichen zu verbergen. Der Junge muss fliehen, weil ihn einer der Mörder entdeckt und ihn als unliebsamen Zeugen beseitigen will. Voller Trauer und Furcht eilt Yuma zurück zu Kraa, um einen Rachefeldzug zu beginnen, den die beiden ungleichen Brüder kaum gewinnen können.
Dem deutschen Leser dürfte der Belgier Benoît Sokal vor allem als Schöpfer von Inspektor Carnado (dt. bei "Carlsen" und "schreiber & leser") ein Begriff sein, jener depressiv-melancholischen Ente, deren Abenteuer irgendwo zwischen Crime Noir, Hard Boiled und Funny anzusiedeln sind.
Melancholie bzw. Schwermut ist auch ein bestimmtes Moment des vorliegenden Albums und zwar in Hinblick auf das Artwork wie auch auf die Story. Ohne großen Pathos erzählt Sokal nicht nur eine Geschichte über den Verlust der Unschuld, der Kindheit und ihrer Träume, sondern auch über die Zerstörung der Natur, einer Natur, die er zu keinem Zeitpunkt romantisiert, sondern die er in der Figur des Adlers als tödlichen Reigen aus Fressen und Gefressen werden zeichnet, in der für Mitgefühl, Gnade, aber auch Hass kein Platz sind und in der es in erster Linie um das Überleben geht. Der romantische, der mystische Aspekt konzentriert sich eher in der Figur Yumas, den von Anfang das Sehnen treibt, mit der Natur – repräsentiert durch den Adler – eins zu sein und der tatsächlich eine empathische Verbindung mit dem Tier spürt.
So poetisch die Geschichte, so ergreifend das Artwork. Im Zeichenduktus sowie der Bildkomposition erinnert Benoît Sokals künstlerischer Ansatz zuweilen an Kinder- und Märchenbuch-Illustrationen aus eben jener Zeit, in der die Story angesiedelt ist: die Konturen der menschlichen Figuren sind oftmals stark umrissen, wirken in ihrer leicht kantigen Ausführung fast holzschnitthaft, während die Darstellung der Natur zumindest in den Bildvordergründen überwiegend einem gleichermaßen realistischeren wie weicheren Ansatz folgt. Die überhöht großen, staunenden Augen Yumas und der übrigen Kinder befördern einen leicht surrealen, märchenhaften Eindruck und ziehen quasi eine visuelle Trennlinie zwischen der rationalen Welt der Erwachsenen und der wundervollen Welt der Kinder.
In der Farbgebung, in der sich mehrere "weiche", leicht transparente Techniken wie Aquarell-, Kreide-, Blei- und Buntstift-Koloration zu vereinen scheinen, bedient sich der Künstler durchgängig warmer, erdiger Farben, unter den Braun und Grün in zahllosen Nuancen dominieren.
Fazit: Eine schwermütige, abenteuerliche wie poetische Geschichte, deren eindringlich-bewegende Bilder den Leser an einen anderen Ort und in eine andere Zeit entführen. Was will man mehr von einem Comic?