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Serie/Zyklus: Emily Laing - Band 1 Eine Besprechung / Rezension von Petra Berger
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Bevor wir zur eigentlichen Inhaltsangabe dieses Buches kommen, hier eine kleine Anmerkung vorweg: Das Buch ist wie eine russische Matruschka. Man öffnet die erste Puppe und darin befindet sich eine weitere Puppe, darin wiederum eine weitere Puppe usw.
So ist es mit dieser Geschichte. Sie besteht aus vielen kleinen Geschichten, die sich am Ende zu einer großen Erzählung zusammensetzen. Oder man stelle sich eine Hauptstraße vor, mit vielen Nebenstraßen und verwinkelten Gässchen. Dort entdeckt man viel Schönes aber am Ende befindet man sich doch wieder auf der Hauptstraße und folgt dem ursprünglichen Weg. Als Rezensent kann man nicht alles zusammen fassen, was dieses Buch ausmacht, man kann nur einen kleinen Teil wiedergeben, der den Leser hoffentlich neugierig genug macht, damit er sich auf die Geschichte einlässt.
Inhalt:
Emily Laing und Aurora Fitzrovia sind Waisenkinder und leben in einem Heim in London, das von strenger Hand durch Mister Dempsey geführt wird, der auch vor Misshandlungen und Prügelstrafe nicht zurückschreckt, wenn die Kinder nicht gehorsam sind. Er beutet die Kinder aus und schickt sie auf Bettelzüge durch London oder er vermietet sie als Arbeitskräfte an Firmen, natürlich fließen die Einnahmen alle in seine eigene Tasche.
Die beiden Mädchen sind Ausgestoßene, sogar unter dieser beklagenswerten Truppe von Kindern, denn Emily hat nur ein Auge und Aurora ist eine Farbige. Beide träumen von einem Leben in einer glücklichen Familie, doch was sie am Ende erwartet, ist fast mehr, als eine Kinderseele ertragen kann.
Eines Tages wird Emily von einer Ratte angesprochen. Bei der Ratte handelt sich um Lord Brewster, der Emily bittet, sich um den Neuzugang Mara Mushromm zu kümmern. Sehr erstaunt darüber, dass sie mit einer Ratte reden kann, begibt sich Emily dennoch in den Kleinkindersaal, um zu sehen, wen die Ratte meint. Sie braucht keinen Hinweis darauf, wer Mara ist, denn sie fühlt sofort ein starkes Band zu dem kleinen Mädchen, dessen Träume sie lesen kann.
Doch bevor sie mehr darüber herausfinden kann, wer Mara ist, wird das kleine Mädchen von Werwölfen entführt. Emily selber wird im Büro vom Mister Dempsey erwischt, als sie nachforschen möchte, woher sie und Aurora kommen. Um der Strafe zu entgehen, die ihr unweigerlich droht, flieht sie aus dem Heim, muss aber Aurora dort zurück lassen. Bei ihrer Flucht wird Emily von den Werwölfen verfolgt und wieder ist es die Ratte, Lord Brewster, die ihr hilfreich zur Seite steht und dafür sorgt, dass Mortimer Wittgenstein sich des Mädchens annimmt. Mortimer Wittgenstein verbindet eine tiefe Freundschaft zu den Ratten und er wurde von Lady Hampstead, einer alten, ehrwürdigen Rättin, aufgezogen. Obwohl Einsiedler und Eigenbrötler, nimmt er sich des Mädchens an und erkennt bald ihre Talente. Sie ist ein Trickster wie er und kann in die Gedanken der Menschen eindringen sowie ihre Träume lesen. Ein starkes Talent, das bei der Rettung Maras eine große Hilfe sein wird.
Gemeinsam mit Maurice Micklewhite, einem Lord der Elfen, finden Wittgenstein und Emily heraus, dass Mara in die uralte Metropole gebracht wurde. Die uralte Metropole ist London, doch nicht das London, das wir kennen, sondern eine Stadt unter der Stadt, voller Magie und Wunder, bevölkert von den seltsamsten Kreaturen, entsprungen aus Mythen und Legenden. Eine lebendige Märchenwelt, die seit Jahrtausenden existiert, denn hier vergeht die Zeit anders als im London der Normalsterblichen.
Hinter der Entführung des kleinen Mädchens steckt der Lordkanzler von Kensington, der im Auftrag von Lycidas handelt, dem neuen Herrscher im Tower von London. Beides sind bekannte Gestalten. Hinter dem Lordkanzler von Kensington verbirgt sich Anubis, der Herrscher über das Totenreich und hinter Lycidas ist niemand geringerer als Lucifer, der gefallene Engel. Zwei nahezu unbesiegbare Gegner
Um Emily Mut zu machen und sie zu motivieren, holt Wittgenstein Aurora aus dem Waisenhaus und nimmt sie ebenfalls unter seine Fittiche und gemeinsam machen sich die vier auf den Weg in die uralte Metropole, um Mara zu finden. Begleitet werden sie dabei durch das Irrlicht Dinsdale, das ihnen in der Dunkelheit leuchtet und den Weg zeigt.
Die Gefährten müssen sich vielen Gefahren stellen, doch die beiden Mädchen geben sich gegenseitig Kraft und Mut, der Elfenlord ist ein gewaltiger Kämpfer und auch Master Wittgenstein besitzt einige Talente als Alchemist, die sehr hilfreich sind.
Kommentar:
Die Idee einer Stadt unter der Stadt ist nicht neu, wurde aber hier grandios umgesetzt und der Autor hat die Begabung, diese uralte Metropole sehr lebendig zu schildern und mit vielen skurrilen Gestalten zu füllen.
Als Einstieg in das Buch hat sich Christoph Marzi für zwei Songtexte entschieden, und es passt keines so gut wie London’s calling von The Clash. Denn London ruft den Leser und zieht ihn in seinen Bann.
Man fühlt sich in das London von Charles Dickens versetzt, doch spielt die Geschichte in der heutigen Zeit, Die Kontraste sind schön hervorgehoben Der Straßenslang von McPoff gegen die altmodische Redeweise des Master Wittgenstein, die modernen U-Bahnen und die McDonalds Filialen stehen im Kontrast zu dem dickenschen Waisenhaus und die neuen und modernen Hochhäuser mit ihren Illuminationen stehen im Kontrast zur uralten Nationalbibliothek.
Der Grund für die Entführung der kleinen Mara liegt in der Vergangenheit. Zwei uralte Häuser, seit Jahrhunderten miteinander verfeindet. Die Familie Mushroom und die Familie Manderly liegen seit Anbeginn der Zeit miteinander im Clinch, die Gründe dafür gingen im Laufe der Zeit verloren, nur der gegenseitige Hass ist geblieben. Dieser Hass führte im 19. Jahrhundert fast zum Untergang Londons und nur eine Verbindung der beiden Häuser durch eine Heirat konnte die Stadt noch retten. So wurde die junge Mia Manderly mit Lord Mushroom verheiratet und aus dieser Verbindung ging ein Kind hervor. Die kleine Mara Mushroom. Den Leser vermag das verwirren, spielt die Geschichte doch im ausgehenden 20. Jahrhundert, doch vergeht die Zeit in der uralten Metropole anders, als im heutigen London. Kenner der uralten Metropole vermeiden es daher, ihre Kinder mir dorthin zu nehmen.
Der brüchige Frieden wird durch die Entführung des Kindes bedroht. Die Familie Mushroom hat mächtige Verbündete gewonnen und giert nach Herrschaft über das unterirdische London und ist sich sicher, diesen Kampf diesmal zu gewinnen.
Die vier Freunde machen sich auf, die kleine Mara zu retten und London vor dem Untergang zu bewahren. Dabei werden Freunde zu Feinden und Feinde zu Freunden, sie können niemandem trauen als sich selbst.
Christoph Marzi greift hier auf schon bekannte Mythen und Legenden zurück, verwebt dies mit eigenen Ideen und schenkt dem Leser etwas unglaublich faszinierend Neues. Wir begegnen Gestalten wie Lucifer, Lilith, Anubis, Jack the Ripper, dem Golem und noch vielen anderen alten Bekannten. Die Symbiose der Stadt mit den Ratten ist absolut genial gemacht und lässt diese Rasse in einem ganz neuen Licht erschienen. Auch die fliegenden Ratten, die Tauben, bekommen hier eine Daseinsberechtigung und helfen den Freunden, Botschaften zu übermitteln.
Das Cover des Buches ist in einem starken, kräftigen Blau gehalten. Der Tower von London vor einem Vollmond ist abgebildet und vermittel sofort eine düstere und beklemmende Atmosphäre. Im inneren findet der Leser eine Karte des heutigen London, mir hat allerdings ein Plan des U-Bahn Netzes gefehlt, der sicherlich noch eine Bereicherung gewesen wäre.
Fazit:
Christoph Marzi hat hier eine wunderbare Welt geschaffen, die von vielen merkwürdigen Gestalten bevölkert ist. Kein fremdes Land, sondern eine Stadt unter einer uns bekannten Stadt, in die wir ihm gerne folgen. Die Figuren sind durchweg sympathisch beschrieben, sie sind nicht eindimensional, sondern besitzen eine Tiefe und eine Gefühlswelt, die der Leser gut nachvollziehen kann. Und alle haben ihre kleine Schwächen und Eitelkeiten, was sie noch glaubwürdiger macht. Keine strahlenden Helden, die im Alleingang mit einem Schwert in der Hand die Welt retten, sondern eine Gruppe Freunde, die sich vertrauen und die aufeinander angewiesen sind und nur gemeinsam ihr Ziel erreichen können. Mehr davon!