Serie: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Seit 1992 erscheinen in der "japan edition im be.bra verlag" alte wie moderne Klassiker der japanischen Literatur. Laut Verlagsprospekt "reicht dabei [das Spektrum] von den Aphorismen des mittelalterlichen Mönches Kenkô bis zu den Werken des 1994 mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichneten Kenzaburo Ôe." 2006 veröffentlichte der Herausgeber der Reihe, Prof. Dr. Eduard Klopfenstein von der Universität Zürich, u.a. zwei phantastische Romane. Neben Die Reise nach Amanon der vor drei Jahren verstorbenen Yumiko Kurahashi war das Mein Blut ist das Blut eines anderen, ein früher Roman des mit verschiedenen wichtigen Preisen ausgezeichneten Autors Yasutaka Tsutsui. Tsutsui begann seine Karriere in den sechziger Jahren als Science-Fiction-Autor. Später erwarb er sich mit seinen zahlreichen surrealistischen, satirischen Romanen den Ruf eines Tabubrechers, Sozialkritikers und Enfant terribles der japanischen Literatur. All diese Eigenschaften finden sich bereits in Mein Blut:
Nach seinem Universitätsstudium verschlägt es den jungen Ryôsuke Kinukawa in eine aufstrebende Boomtown in der japanischen Provinz, wo er bei einer Hochbaufirma eine Stelle als Buchhalter antritt. Schon nach kurzer Zeit beginnt er eine leidenschaftliche Affäre mit der wunderschönen Direktionsassistentin Hamako. Gleichzeitig flirtet er abends oft mit der Barfrau Fusako im Amüsierviertel. Dort kommt es auch zu dem Zwischenfall, der bald in atemberaubender Geschwindigkeit die Stadt in ein Schlachthaus verwandeln wird. Drei Yakuza bedrängen in Ryôsukes Stammkneipe die Animiermädchen. Schließlich belästigen sie auch den schmächtigen Buchhalter so lange, bis er vor Weißglut fast buchstäblich explodiert. Er steigert sich in eine Art epileptischen Anfall, bei dem er das Bewusstsein verliert und wie ein Berserker jeden zu Brei schlägt, der sich ihm in den Weg stellt. Dabei entwickelt er übermenschliche Kräfte und flucht in einem fort unflätig auf Italienisch. Als Ryôsuke endlich wieder zu sich kommt, muss er sich von der panischen Bardame aufklären lassen, dass die Gangster seinen Anfall nur gerade eben überlebt hätten.
Ryôsuke flüchtet nach Hause, in der Hoffnung, sein ruhiges Dasein fortzusetzen - doch dies bleibt ein Wunschtraum. Schon am nächsten Tag stößt er in der Firma auf Akten, die finanzielle Unterschlagungen in der Chefetage belegen. Gleichzeitig sind ihm die beiden Mafia-Organisationen der Stadt auf den Fersen, auf deren Lohnliste alle wichtigen örtlichen Funktionsträger stehen, vom Bürgermeister bis zum Polizeichef. Die Ôhashi-Familie will ihn töten als Rache für das, was er ihren Handlangern angetan hat; die Samonji-Familie dagegen will ihn als Leibwächter engagieren, um so ihre Gegner, die Ôhashis, in Schach halten zu können. Schnell kommt es immer häufiger zu Situationen, in denen das Ungetüm in Ryôsuke die Kontrolle übernimmt.
Schließlich ergeben die Nachforschungen eines Journalistenfreundes, dass vor 23 Jahren in einem Tokioter Hospital ein berüchtigter italienischer Mafioso seinen letzten Atemzug tat, kurz nachdem er mit einer Blutspende dem neugeborenen Ryôsuke das Leben gerettet hatte. Doch dieses Wissen kommt für den jungen Mann zu spät. Angefeuert durch seine Gewaltexzesse, ist in der Stadt ein Krieg ausgebrochen zwischen den zwei Gangs, ihren jeweiligen Polizeischergen und der ebenfalls beteiligten Direktorenriege der Baufirma. Jeder kämpft - oder intrigiert - gegen jeden. Die Opferzahlen steigen in alptraumhafte Höhen, und der Buchhalter mit dem Blut eines anderen watet knietief durch menschliche Gliedmaßen und Gedärme.
Im Nachwort zu Yasutaka Tsutsuis Roman zitiert Herausgeber Klopfenstein den Anspruch des Autors an sich selbst, "Slapstick-Fiktion" zu schreiben. Klopfenstein beschreibt diesen Begriff als ...
"... jenen leicht überzogenen, manchmal grellen, poppigen, schockierenden Erzählduktus, der sich unterschiedlichster Darstellungsmittel, auch solcher der Trivialliteratur, bedient, um auf einer zweiten hintergründigen Ebene die Machart des Textes zur Diskussion zu stellen. Gleichzeitig mit der Erzählung soll also auch die Erzählweise reflektiert und hinterfragt werden, ein Verfahren, für das sich der Begriff Metafiktion eingebürgert hat." (S. 222f)
Nun gut, aber was will uns das sagen? Den Ausdruck Metafiktion beschreibt mein Literaturlexikon als "Erzählliteratur, die ihre Fiktionalität gezielt und grundsätzlich offenlegt" und fügt weiter an:
"Das metafiktionale Verfahren kann auch auf andere Texte bezogen sein (Intertextualität), etwa im Fall der Parodie. Umstritten bzw. im Einzelfall zu prüfen ist, inwieweit M. die Illusionsbildung auf Seiten des Rezipienten grundsätzlich stört oder gar zerstört oder ob sie nur ein Bewusstsein des Lesers für das fiktionale Als-ob-Spiel schafft oder verlangt."
Haben Sie bitte noch etwas Geduld mit mir; mehr Zitate dieser Art werden nicht folgen. Mein Blut wird in seiner deutschen Ausgabe als Thriller beworben, und ganz offensichtlich stützt sich das Buch in der Wahl seiner Darstellungsmittel vor allem auf klassische amerikanische Vorbilder des "hard-boiled" Kriminalromans. Genauer gesagt: Die Handlung des Buches folgt in groben Zügen Dashiell Hammetts Roman Rote Ernte (Red Harvest, 1929). Tsutsui macht aus dieser Anleihe überhaupt kein Geheimnis. Bereits auf Seite 35 bemerkt Ryôsuke gegenüber einem Kapo der Samonji-Familie, die ganze Geschichte klinge nach Dashiell Hammett. Was sich bei dem berühmten US-Autor allerdings nicht findet, ist die Figur des übernatürlichen Monstrums, die man eher in der phantastischen Literatur antrifft. Mögliche Vorbilder wären da etwa "The Incredible Hulk" oder Robert Louis Stevensons "Mr Hyde".
Tsutsui benützt dieses Monstrum nun zur Beschreibung drastischer Gewaltszenen, von denen hier nur eine angeführt sei:
"Dann schlug ich ihn. Sein Gesicht verzerrte sich, der Unterkiefer sprang nach vorn. Ich hatte erst begonnen, aber ich schlug seine Visage zu Brei. Wieder und wieder versenkte ich meine Faust in diesem Gesicht. Die Unterlippe riss ab und hing schlaff herab, bis zum Kinn. Ich schlug weiter zu. Abgebrochene Zähne flogen durch die Gegend. Als der Mann begriff, dass er getötet wurde, faltete er die Hände." (S. 202)
Der Sprache des Autors (und/oder seines deutschen Übersetzers) im obigen Textbeispiel lässt sich eine gewisse Brillianz nicht absprechen, aber welchem Zwecke dient sie? Dem gewollten Tabubruch gegenüber einer derart 'harten Tobak’ nicht gewöhnten Leserschaft des Jahres 1974? Vielleicht. Tabubrüche sind manchmal nötig, um der Literatur neue Möglichkeiten zu erschließen. Ob Gewaltorgien, die einem modernen Publikum mittlerweile aus so manchem Manga/Anime vertraut sind, dazu gehören, darüber lässt sich trefflich streiten. Bei der Lektüre von Mein Blut erfährt man - so man es nicht eh schon vermutete -, dass auch in Japan das organisierte Verbrechen versucht, die Gesellschaft zu korrumpieren. Doch lernt man hier sonst noch irgendetwas? Eduard Klopfenstein behauptet weiter oben, der Roman stelle auf einer "hintergründigen Ebene die Machart des Textes zur Diskussion". Aber: Tut das nicht jeder Roman schon dadurch, dass er veröffentlicht wird?
Mein Blut verknüpft bekannte Versatzstücke der Genre-Literatur spielerisch mit einer ironischen Erzählweise, anderthalb angedeuteten Liebesgeschichten und surreal übersteigertem Splatter. Das Buch ist locker und gekonnt geschrieben und entwickelt durch seine rasante Handlung ein beträchtliches Erzähltempo. Mehr leistet es nicht. Die Übersetzerin und Expertin für japanische Literatur Irmela Hijiya-Kirschnereit fragt sich in ihrer Besprechung des Romans (in der FAZ vom 09.03.2007), warum ausgerechnet dieses Buch Tsutsuis als erstes ins Deutsche übersetzt wurde. Sie beklagt, dass "hier die Chance [vertan wurde], einen wirklich interessanten japanischen Autor vorzustellen", und wünscht sich "einen deutschen Neustart mit einem aktuelleren Roman."
Dem kann man sich nur anschließen.
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Noch eine Anmerkung zu Dashiell Hammett: Sein Romanerstling Rote Ernte inspirierte mindestens drei bekannte Filmregisseure, und zwar Akira Kurosawa, Sergio Leone und Walter Hill: