Das Lexikon der deutschen Science Fiction und Fantasy 1870-1918 stellt ein Nachschlagewerk zur frühen deutschsprachigen Science Fiction und Fantasy dar. Über 400 Autoren und 800 Werke sind - vielfach zum ersten Mal - biografisch und bibliografisch korrekt erfasst. Die 200 wichtigsten Romane und Kurzgeschichtensammlungen werden ausführlich beschrieben. Das Lexikon bietet eine kritische Wertung und Würdigung der Autoren und ihrer Werke hinsichtlich ihrer literarischen Stellung, politischen Haltung und ästhetischen Besonderheiten. Aufgenommen sind ferner Illustratoren, Verleger, Regisseure und andere Künstler. Ein einführendes Vorwort sowie eine 35-seitige Bibliografie runden dieses Standardwerk ab.
Nessun Saprà , Lexikon der deutschen Science Fiction und Fantasy 1870-1918. Vorwort von Klaus Geus. Materialien und Untersuchungen zur Utopie und Phantastik; Bd. 1, Oberhaid: Utopica, 2005. 314 Seiten, Hardcover. ISBN: 3-938083-01-8
Der Autor Klaus Geus (Nessun Saprà ) und das Lexikon werden hier auf Fictionfantasy in einem Porträt und Interview näher vorgestellt.
Ein Beitrag von Ulrich Blode
"Klaus Geus wurde 1962 in einem oberfränkischen Dorf ohne sein Zutun geboren. Aus purem Vergnügen studierte K. Geschichte, Latein und Griechisch, erwies sich als brauchbar und durfte seine Hobbys sogar einige Jahre lang an einer Universität gegen Bezahlung pflegen. Seitdem aber die Politiker zu der Auffassung gelangt sind, dass Personen, denen das Unterrichten Freude und Spaß macht, an Schule und Universität nichts zu suchen haben, muss er sich mit verschiedenen Tätigkeiten - u. a. als Dozent, Publizist, Übersetzer, Lektor und Kleinverleger - über Wasser halten.
Publiziert hat er bisher (teilweise in Zusammenarbeit mit Freunden) neun Bücher bzw. selbständige Broschüren, 37 Aufsätze, ca. 50 Lexikonbeiträge sowie diverse Rezensionen, Übersetzungen und andere Quisquilien.
Seit einigen Jahren versucht er sich auch unter dem Namen "Nessun Saprà " auch auf dem utopisch-phantastischem Sektor. Er trägt schwer daran, dass es bisher nur zum 2. Preis beim Kurd Laßwitz Preis 2003 ("Beste deutschsprachige Science-Fiction-Kurzgeschichte") gereicht hat."
(Selbstporträt)
Ulrich Blode: Interview mit Klaus Geus
Blode: "Science Fiction und Fantasy 1870-1918" wird das Nachschlagewerk betitelt. Kann überhaupt bereits von "Science Fiction" oder "Fantasy" gesprochen werden (zwei Begriffe, die erst im 20. Jahrhundert ihre Bedeutung erlangt haben)?
Geus: Die Begriffe sind jung, die Sache uralt. Geschichten, in denen Reisen zum Mond oder Zauberer beschrieben werden, gibt es seit der frühen Antike. Das sind eindeutig Science-Fiction- und Fantasy-Motive, und folgerichtig sollten diese Geschichten auch als Science Fiction oder Fantasy bezeichnet werden. Dies ist übrigens nicht nur meine Meinung. Diese Ansicht setzt sich auch bei den Germanisten mehr durch, wie z. B. die grundlegende Untersuchung von Roland Innerhofer (Deutsche Science Fiction 1870-1914) zeigt.
Auf der anderen Seite ist natürlich die Aussage richtig, dass Science Fiction und Fantasy in dieser Zeit noch kein festgefügten Genres waren. Aber gerade dadurch ist diese frühe Zeit auch so reizvoll. Man kann förmlich die Frische und Unverbrauchtheit spüren.
Blode: Warum ausgerechnet 1870-1918?
Geus: Um 1870 wird mit dem Aufstieg der Massenkultur und damit auch der Massenliteratur ein neues Kapitel der Literaturgeschichte aufgeschlagen. Billige "Groschenhefte", so genannte "Volks- und Jugendbibliotheken", wandten sich explizit an die neuen Leserschichten. Erst zu diesem Zeitpunkt bildete ein Genre heraus, das über typische, rekurrierende Motive, Elemente und Stile verfügte und in größerer Auflage publiziert wurde. Nicht zufällig ist der erste Heros dieser Spielart populärer Literatur - Jules Verne - damals ins Deutsche übersetzt worden. Dieses Kapitel findet 1918 zusammen mit der Kaiserzeit - und mit der Aufhebung der Zensur - einen ersten Abschluss. Während die Genres in der Zeit zwischen 1870 und 1918 noch fast monolithisch aussahen, erhielten in der Weimarer Republik Science Fiction und Fantasy vielfältige neue Impulse.
Blode: Welche Quellenlage (Primär- und Sekundärliteratur) hast du vorgefunden bzw. ist eine "Vollständigkeit" des Lexikons gewährleistet?
Geus: Niemand kann ein Lexikon ohne Vorarbeiten schreiben. Das war in meinem Fall natürlich auch so. Neben den einschlägigen Bibliographien von Bleymehl, Bingenheimer und Bloch hatte ich das Glück, dass ich die Aufzeichnungen des verstorbenen Antiquars Dieter Simon einsehen konnte. Auch die Auswertung der beachtlich umfangreichen Sekundärliteratur - insgesamt wurden über 500 Titel eingesehen - hat viel Unbekanntes zu Tage gefördert. Dadurch konnte ich für meinen Zeitraum etwa 100 Titel berücksichtigen, die bisher nicht bekannt waren.
Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt mein Lexikon übrigens nicht. Dies ist nicht Aufgabe eines Lexikons, sondern die Aufgabe einer Bibliografie. Mein Ziel war es vielmehr, grundlegende und gesicherte Informationen über die wichtigsten Autoren und ihre Werke bereit zu stellen. Das war schwierig genug.
Blode: Mit welchen Themen haben sich die Autoren damals auseinandergesetzt?
Geus: Es gibt im Wesentlichen zwei Themen, die die Science-Fiction- dieser Zeit dominierten: der bevorstehende Weltkrieg und die zukünftige Rolle der Frau. Fast die Hälfte der Publikationen befasst sich mit diesen beiden Themen, die ganz offenbar alle Schichten und Gesellschaftsgruppen umgetrieben haben. Daneben gibt es relativ viele Erfinderromane und antisozialistische Zukunftsromane, wie überhaupt in den meisten Werken eine wertekonservative Grundeinstellung zum Ausdruck kommt. Weil die Zensur dieser Zeit wesentlich rigider als später in der Weimarer Zeit war, wirkt die Kaiserzeit bei aller Vielfalt der literarischen Strömungen doch merkwürdig geschlossen. Explizite Gesellschaftskritik findet sich eher selten, und wenn, dann meist nur in anonym erschienenen Werken oder in satirischer Form. Andere Themen außer dem Zukunftskrieg und der Frauenemanzipation sind eher selten. Die sozialistischen Utopien kann man z. B. an zwei Händen abzählen.
Blode: In welcher Form geschah das (Romane, Theaterstücke, Filmen)?
Geus: Nicht anders als heute, die Medien waren prinzipiell alle schon vorhanden, Romane, Kurzgeschichten, Heftromane, Dramen, Gedichte, Filme usw. Ihre Gewichtung bzw. Bedeutung war natürlich anders als heute. Damals wurden wesentlich mehr Theaterstücke und Gedichte publiziert, dagegen spielte der "Kintopp" bis auf die letzten Jahre meines Zeitraums kaum eine Rolle. Manche literarischen Formen sind übrigens heute praktisch ausgestorben, etwa das Couplet, in dem Otto Reutter mehrfach einschlägige Themen aufgriff, z. B. darunter "Ach wie fein wird’s in 100 Jahren sein!", "Die Frauen in 100 Jahren", "Der Zukunftsreichstag" oder "Der Zukunftsstaat".
Blode: Kurd Laßwitz und Hans Dominik sind auch heute noch prominente Vertreter der frühen deutschen Science Fiction. Auf welche Schätze bist du bei deinen Recherchen gestoßen, die heute wenig oder sogar unbekannt sind?
Geus: Die Literatur der Kaiserzeit befand sich generell auf einem sehr hohen Niveau. Man denke nur an Namen wie Thomas Mann, Franz Kafka oder Gerhart Hauptmann. Dieses hohe sprachliche Niveau findet sich auch in den Science-Fiction- und -Fantasy-Werken dieser Zeit, auch wenn es natürlich "Ausrutscher" nach unten gibt. Für mich überraschend war, dass fast alle literarischen "Größen" dieser Zeit utopisch-phantastische Werke geschrieben haben. Anscheinend gab es keine Berührungsängste zu dieser Art von Literatur. Die frühen Expressionisten schrieben sogar sehr viel, was man zur Science Fiction zu zählen kann, was aber kaum jemand als solche wahrnimmt, etwa die Werke Albert Ehrensteins, Mynonas oder Max Brods. Neben diesem beachtlichem Strom an "Hochliteratur" gibt es ein Fülle gut lesbarer Unterhaltungsromane, die man auch heute noch mit Gewinn lesen kann, etwa Wilhelm Fischers Im Jahre 2356, Henne-Am Rhyns Aria oder Rudolf Hawels Im Reich der Homunkuliden. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs.
Blode: Wie ist die Idee zu einem Lexikon deutscher Science Fiction und Fantasy entstanden?
Geus: Vor gut zehn Jahren habe ich während eines Cons mit drei sachkundigen Freunden vereinbart, ein neues Lexikon der Science Fiction zu machen. Wir haben die Arbeit auch gleich untereinander aufgeteilt, aber nach und nach sind immer mehr abgesprungen, bis nur noch ich übrig geblieben bin. Da ich die Idee an dem Lexikon aber nicht für mich alleine beanspruchen kann und einer der "Viererbande" auch heute noch als "Ideengeber" auf dem Titelblatt genannt werden möchte, kann des Lexikon nicht unter meinem richtigen Namen erscheinen. Ich habe daher das Pseudonym "Nessun Saprà " gewählt, unter dem ich schon seit längerem Kurzgeschichten schreibe.
Blode: Was bedeutet das Pseudonym "Nessun Saprà "?
Geus: Das Pseudonym ist in erster Linie ein literarischer Gag. "Nessun(o) saprà " bedeutet wörtlich aus dem Italienischen übersetzt "Niemand wird es wissen", und spielt natürlich auf einige literarische und musikalische Werke an, die ich sehr schätze ...
Blode: Dann hast du das Lexikon ganz alleine verfasst?
Geus: Ja.
Blode: Wird es ein Nachschlagewerk geben, das sich mit den Werken vor 1870 beschäftigt bzw. ist das überhaupt sinnvoll? Was für eine "Science Fiction" hat es im frühen 19. Jahrhundert gegeben?
Geus: Ich definiere, wie gesagt, Science Fiction anhand typischer Motive und Elemente. Ganz wichtig ist natürlich das utopische Element, also die Beschreibung eines (meist zukünftigen) Idealstaates mit seinen gesellschaftlichen und technischen Fortschritten. Die Zahl der Werke geht - ohne Übertreibung - auch schon für die Zeit vor 1870 in die Tausende. Allein im Frankreich des 18. Jahrhunderts gab es über 500 Titel. Wenn ich diese Zahl auf andere Länder und andere Zeiten hochrechne, komme ich auf ca. 2-3000 Titel. Bessere Schätzungen kenne ich nicht. Jedenfalls hat es Science Fiction schon vor dem Jahr 1870 in beträchtlichem Umfang gegeben. Einen ersten Eindruck kann man sich mit Hilfe von Pierre Versins gigantischem Werk Encyclopédie de l'Utopie, des Voyages extraordinaires, et de la Science Fiction verschaffen.
Blode: Du sitzt bereits an der "Fortsetzung", dem Lexikon der deutschen Science Fiction und Fantasy 1919-1945. Was kannst du uns bereits darüber berichten, z. B. Erscheinungstermin?
Geus: Das Lexikon soll einen ähnlichen Aufbau und Umfang haben wie sein Vorgänger. Weil es allerdings in der Weimarer Zeit noch wesentlich mehr einschlägige Werke gab, erweist sich die Auswahl der wichtigsten Autoren und ihrer Werk als schwieriger als beim ersten Lexikon, zumal natürlich trotzdem alles gesichtet werden muss. Auf der anderen Seite habe ich jetzt bereits einige Erfahrungen gewonnen und gewisse Vorarbeiten geleistet, so dass der Grundstock für das zweite Lexikon bereits existiert. Zum Termin? Man soll ja nicht über ungelegte Eier reden, aber ein Erscheinungstermin Ende 2006/Anfang 2007 ist nicht unrealistisch.
Blode: Welche andere Projekte verfolgst du noch?
Geus: Neben dem Lexikon arbeite ich seit Jahren mit Horst Illmer an einer Bibliographie der deutschen Science Fiction und Fantasy 1870-1945. Hier sind dann SÄMTLICHE einschlägigen Titel bibliografisch erfasst. Außerdem plant der Utopica Verlag noch ein paar andere sekundärliterarische Arbeiten. Lass dich überraschen.
Serie / Zyklus: Materialien und Untersuchungen zur Utopie und Phantastik; Bd. 1.
Titel: Lexikon der deutschen Science Fiction und Fantasy 1870-1918.
Vorwort: Klaus Geus
Autor: Nessun Saprà :
Verlag / Buchdaten: Oberhaid: Utopica, 2005. 314 S. Hardcover. ISBN: 3-938083-01-8
Anmerkung: Das Interview wurde per Email am 30. und 31. Mai 2005 geführt.