Titel: Noir Eine Besprechung / Rezension von Karsten Kruschel |
Zwar heißt das Buch “Noir”, aber auf dem Umschlag findet sich kein Schwarz, sondern das Blauweißrot der französischen Trikolore. Damit wird auf die Welt angespielt, in der sich der namenlose Protagonist dieses wahrhaft finsteren Romans wiederfindet: In Frankreich haben die Faschisten die Macht ergriffen (oder die Extremnationalisten, wenn das einen Unterschied macht).
Der Ich-Erzähler wird eines Mordes beschuldigt, an den er sich nicht erinnern kann, und verhaftet. Weil die neue Regierung kein Federlesens mit Gewaltverbrechern macht, bringt man ihn in eine einsame Gegend, um den Fall abschließend und letal zu “klären”. Allerdings stürzt der Polizeiwagen in eine Schlucht und der Mann kann sich befreien. Er irrt durch einen Wald, den abgerissenen Arm des Polizisten, an den er gekettet gewesen war, hinter sich herschleifend, und hat eine sehr merkwürdige Begegnung mit einem Menschen, der zwar aussieht wie jemand mit Down-Sydrom (was man früher mongoloid genannt hat), selbst aber offenbar nicht die Behinderungen des Syndroms hat.
Nach diesem sehr geheimnisvollen Prolog kehrt der Mann zurück – “zurück” in eine zwölf Jahre entfernte Zukunft, in der äußeren Gestalt eines Trisomie-21-Patienten, dessen Blicke tödlich sind und der nirgendwo ein Spiegelbild seiner nuen Gestalt finden kann.
Frankreich hat sich nicht zum Vorteil verändert. Auf alle, die ein bißchen anders sind, wird Jagd gemacht, und die Menschen sind seltsam interesselos, teilnahmslos, wie hohle Figuren, die brav tun, was die Obrigkeit ihnen sagt. Der Protagonist des Romans versucht herauszufinden, was mit ihm geschehen ist und vor allem, was mit der Welt geschehen ist, die ihm überhaupt nicht mehr gefällt. Er ist Außenseiter in diesem traurigen Überrest der Grande Nation, und er ist der erstaunte Besucher eines ihm fremden Landes. Er macht eine gehetzte Rundreise durch einen totalitären Staat, um am Schluß festzustellen, daß er selbst ein Werkzeug der Mächte ist, die ihn so abstoßen.
Hier finden sich reichlich Spuren der klassischen Dystopie: Das neue nationale Frankreich schottet sich nach außen ab, die Unterdrückung ist perfekt und unausweichlich. Im Gegensatz zu vielen anderen dystopischen Texten, die wenigstens einen kleinen Lichtblick offenlassen, gibt es in „Noir“ nicht den geringsten Ausweg. Die Regierung hat mit einer gefügig machenden Wunderdroge die gesamte Bevölkerung in schafsdusselige Untertanen verwandelt, die bei dem geringsten Anzeichen eines nichtgleichgeschalteten Wesens ihr Funktelefon zücken und die Behörden verständigen. Die imprägnierende Droge ist in allem, was man zu sich nehmen kann, in der Nahrung, im Wasser, überall. Der kafkaesk durch diese Dystopie irrende Erzähler ist am Ende nur ein Werkzeug, das außer Kontrolle geraten war.
Selbst die abschließende, ziemlich widerliche Szene, in der einer der Auftraggeber des Systems samt seiner Familie abgeschlachtet wird, gibt dem düsteren Bild keine andere Wendung (eine von vielen Szenen, die man auch ekelhaft finden kann). Fatalistisch ergibt sich der (Anti)-Held seinem Schicksal, denn es gibt sowieso kein Entrinnen.
Allerdings betont der Autor sehr oft und eindringlich, daß es ja die Wähler waren, die die Nationalpartei und damit das ganze Elend an die Macht gebracht haben; insofern handelt es sich auch um eine direkte Warnung an den Leser. Erst diese gedankenlose Wahl hat ermöglicht, daß die Bevölkerung gegen Mitgefühl und Individualität imprägniert wurde. Am Seelenteflon, der alle Seelen überzogen hat, perlt alles ab.
Olivier Pauvert, dessen erster Roman in Frankreich gleich zum literarischen Ereignis hochgejubelt (und als Anti-Le-Pen-Buch mißverstanden) worden ist, schafft es mit ein paar einfachen Mitteln, eine alles umschließende Aura von Bedrückung und Gefahr zu erzeugen. Alles wird im Präsens erzählt, nichts findet in der Vergangenheit statt; die brutale Gewalt wird sachlich und teilnahmslos abgehandelt, nicht ohne dabei ausgiebig in abstoßenden Details zu schwelgen; die Grundbedingungen der vorgefundenen Welt sind seltsam unwirklich und ausgedacht, während die am Ende gegebenen Erklärungen alles andere tun als tatsächlich die Vorgänge aufzuhellen.
Insofern ist der Titel des Romans sehr treffend: Am Ende überschreitet der Protagonist einen schwarzen Fluß, sehr wohl wissend, daß auch auf dem anderen Ufer keine Hoffnung zu finden sein wird.