Titel: Pelikan Protokoll 1 Eine Besprechung / Rezension von Frank Drehmel |
Irgendwann Mitte des 20. Jahrhunderts: zwölf sehr unterschiedliche Menschen – vom zwölfjährigen Mädchen über einen politischen Aktivisten und einen selbstbewussten Unternehmer hin bis zu einer alten Witwe - werden weltweit zum Teil direkt aus der Öffentlichkeit entführt und in einen geheimen Forschungskomplex verschleppt.
Ihrer Würde und ihrer Freiheiten beraubt sehen sich die Opfer mit Umständen konfrontiert, die nicht nur sie nicht verstehen, sondern ebenfalls nicht die wenigen Wächter, die sie beaufsichtigen. Ein ominöses Verfahrens-Protokoll, das unter anderem sie, die Insassen, zu Einheiten, die Wissenschaftler zu Beratern und die wenigen Wachleute zu Kameraden macht, regelt nicht nur ihren Tagesablauf, sondern auch die Anlage und Durchführung der Experimente. Und diese Experimente sind zunächst psychologischer und sozial-psychologischer Natur, beginnen mit Einzelgesprächen und Befragungen und münden in einer sogenannten Vernetzung der Gruppe über gemeinsame Freizeit.
Die Motive der Forscher bleiben zwar rätselhaft, jedoch wird schnell klar, dass sie vor extremen Maßnahmen nicht zurückschrecken, um den Widerstand der Einheiten zu brechen. Insbesondere Einheit 4, die ihren Bruder erziehende Isabell, erweist sich als aggressiv renitent, und zwar so sehr, dass sie trotz sedierender Medikation einen Ausbruchsversuch wagt, an dessen Ende allerdings die Erkenntnis der vollkommenen Ausweglosigkeit ihrer Situation steht.
Was sich anfangs wie ein landläufiger Verschwörungsbrei, ausnimmt, in dem eine geheimnisvolle, global agierende Organisation im Unter- und Hintergrund an und mit Menschen herumpfuscht, entwickelt sich in kürzester Zeit zu einer hochspannenden, beeindruckend intensiven Geschichte. Insbesondere die Tatsache, dass sich Marazano nicht auf die Opfer fokussiert, sondern auch die Seiten der Wachleute sowie der Versuchsleiter mit einbezieht, verleiht der Story Komplexität und Tiefe, versetzt den Leser in die Lage, das Geschehen aus Blickwinkeln zu betrachten, die nicht nur die eines Opfers oder Täters sind, denn sowohl die Berater als auch die Kameraden erweisen sich ebenfalls quasi als Gefangene, die ersten auf Grund unbestimmter Umstände, die das Experiment notwendig und dringend zu machen scheinen, die zweiten auf Grund falscher oder fehlender Informationen über die Einheiten, von denen sie annehmen, dass sie die Art der Gefangenschaft und Bestrafung verdient hätten, was schnell zu Widersprüchen mit ihren eigenen Beobachtungen führt. Die Hilflosigkeit der Probanden gepaart mit der scheinbar eiskalten Distanz der Berater sowie dem Gehorsam der Kameraden erschafft eine beklemmende, von struktureller – kaum von körperlicher – Gewalt geprägte Atmosphäre, die den Leser das Absurde des Verschwörungsansatzes vergessen lässt.
Wirklich beeindruckend ist das cineastische, hochrealistische Artwork Ponzios, dessen visuell extrem markanten, individuellen Figuren zuweilen reale Personen zugrunde zu liegen scheinen und das in seiner Anlage, in den Zeichnungen und der Koloration, dem Panelaufbau und dem Umgang mit technischen Spielereien an Christophe Becs Stil erinnert, eines der zur Zeit umtriebigsten französischen Comic-Künstler und -Szenaristen.
Fazit:
Hochspannend, realistisch und beklemmend; nicht nur für Verschwörungsanhänger ein gefundenes Fressen.