Originaltitel: Science Fiction: The 100 Best Novels. An English-Language Selection, 1949-1984 Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Das Erstellen von Bestenlisten jeglicher Art scheint mir zweifellos zu den Lieblingsbeschäftigungen des Menschen zu gehören. Dass ich Ihnen gleich einen weiteren Vertreter dieser Art vorstellen werde, liegt daran, dass es in David Pringles Sachbuch um Science Fiction geht, eines meiner literarischen Lieblingsgenres. Das Werk erweckte meine Neugierde schon deshalb, weil ich mich häufig frage, ob es vielleicht doch irgendwo da draußen, in den Weiten des SF-Universums, englischsprachige Meisterwerke gibt, die bislang nicht vor meinem geistigen Horizont erschienen. Außerdem genießt dieses spezielle Buch offenbar einen guten Ruf. Jedenfalls äußerte sich Dietmar Dath einmal dementsprechend in einem Artikel in der FAZ, in dem er von „David Pringles vielzitiertem und im Großen und Ganzen erfolgreich kanonbildenden Romanführer“ schrieb. Pringle gilt seit Jahrzehnten in SF-Kreisen als ausgezeichneter Kritiker. Neben mehreren Sachbüchern (u. a. auch einer Bestenliste zur Fantasy-Literatur) zeichnet er für eine Reihe Artikel in der von Clute/Nicholls herausgegebenen 2. Auflage von The Encyclopedia of Science Fiction aus dem Jahre 1993 verantwortlich. Als er das vorliegende Buch verfasste, war er Mitherausgeber des britischen SF-Magazins Interzone.
Science Fiction: The 100 Best Novels. An English-Language Selection, 1949-1984 beginnt mit einem zweiseitigen Foreword von Michael Moorcock, einer elfseitigen Author’s Introduction sowie einer tatsächlich kurzen Brief Bibliography. Auf Letztere werde ich nicht weiter eingehen, da sie mittlerweile 26 Jahre auf dem Buckel hat und teilweise veraltet sein dürfte. Der Hauptteil des Buches besteht aus 100 jeweils gut eineinhalb Seiten langen/kurzen Essays David Pringles, in denen er meist ausführlich auf den Inhalt der Werke eingeht, um dann ihre Stärken und - womöglich - Schwächen einzuordnen.
Im Foreword erklärt Michael Moorcock, dass er persönlich mit den allermeisten „Golden Age classics“ nichts anzufangen wisse. In den fünfziger Jahren, befindet er, sei „sf story-telling“ mit wenigen Ausnahmen (z. B. William S. Burroughs) „extremely conventional“ gewesen. Anschließend singt er der experimentierfreudigen New Wave der sechziger Jahre ein Loblied - was wohl niemanden überraschen wird, immerhin war der Mann als Redakteur der SF-Zeitschrift New Worlds von 1964 bis 1971 einer der Hauptförderer der Bewegung. Moorcock findet es bedauerlich, dass in einem Buch, welches sich ausschließlich mit Romanen befasst, viele bedeutende kürzere Prosatexte unvermeidlich außen vor bleiben müssen, lobt aber - natürlich - Pringles Auswahl: „I’m pretty certain that most readers would agree on at least fifty of the books mentioned here.“
In der anschließenden Author’s Introduction definiert Pringle unvermeidlicherweise erst einmal ausführlich, was für ihn ein SF-Roman ist und was nicht. Das ist natürlich die wissenschaftlich korrekte Vorgehensweise für einen Sachbuchautor, aber da sich seine Einschätzung nicht wesentlich von der vieler anderer Kritiker unterscheidet, werde ich es mir ersparen, darauf im Detail einzugehen.
Alsdann kommt er zu den interessanteren Fragen, warum er die Zeitperiode von 1949-1984 auswählte und welche Kriterien er bei der Beurteilung eines Werkes anlegte. In der Zeitfrage schien es Pringle einfach so, dass die SF aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg bereits ausführlich dokumentiert worden war und ein Kanon der wichtigsten Werke bereits existierte. Auf 1949 als Ausgangspunkt für seine Liste sei er verfallen, weil in den ersten Jahren nach Kriegsende nur wenige Bücher veröffentlicht wurden und er seine Bestenliste möglichst mit einem Paukenschlag/Meisterwerk beginnen wollte - darum 1949, das Jahr, in dem Orwells 1984 erschien und George R. Stewarts Earth Abides. Dass die Top-100-Liste tatsächlich mit einem Werk aus dem Erscheinungsjahr 1984 endet, hat aber wohl wenig mit Orwell zu tun, sondern ist dem Zufall geschuldet.
Jeder Autor einer Bestenliste lässt fast zwangsläufig seinen eigenen Geschmack mit einfließen. In Pringles Fall führt das dazu, dass in seiner Top 100 bekannte planetary romances der Sorte „the Prisoner of Zenda meets Ayesha on Barsoom“ fehlen. Fans von Marion Zimmer Bradley und Anne McCaffrey (diese Autorinnen werden explizit erwähnt) werden also in diesem Buch enttäuscht. Zur Erläuterung führt Pringle die berühmte Formulierung des Literaturwissenschaftlers Darko Suvin an, SF sei „the literature of cognitive estrangement“. Cognitive estrangement (auf Deutsch etwa: ‚gedankliche Verfremdung’) weist hier auf die zwei Seiten der SF hin: Wir lesen SF-Bücher, weil in ihnen die uns bekannte Wirklichkeit stärker als in den meisten anderen Genres verfremdet dargestellt wird. Gleichzeitig kann diese verfremdete Wirklichkeit aber nur dann längerfristig beeindrucken, wenn sie dazu dient, interessante Gedanken zu vermitteln, die für uns als Leser heute relevant sind. Oder, um David Pringle selbst zu Wort kommen zu lassen:
„In the long term, each of the novels described here will stand or fall on its own merit: the genre `props’ will decay, the tides of fashion ebb away. Then we shall be forced to judge these books on their individual qualities. Structure and style, characterization and wit will become the salient points, points which we look for in any novel. Above all, we shall judge each author’s vision, and when we do so we will be looking for a quality of truthfulness. Great novels `tell it like it is’: they are true to reality, to human nature, to the spirit of their age. Science fiction novels cannot escape these demands. However fanciful the plots and ideas, however ornate the décor, they must, in the end, have authenticity if they are to live."
Bevor ich nun (endlich?) zur eigentlichen Liste komme, muss ich unbedingt noch ein wichtiges `Geständnis’ David Pringles erwähnen. Nach der neunmonatigen Sichtung der für dieses Buch in Frage kommenden Romane erkannte der Autor für sich, dass nur 10, höchstens 12 ihm bekannte SF-Romane ab 1949 die Bezeichnung ‚literarisches Meisterwerk’ verdienten. Etwa ein weiteres Dutzend Romane seien „masterpieces of their sort“ - sagen wir mal: innerhalb des SF-Genres von überragender Bedeutung. Es verblieben also etwa 75 Bücher, die er einfach sehr lesenswert fand. Oder, halt: eigentlich nur 65, denn bei bis zu 10 Werken gibt Pringle offen zu [Respekt!], dass sie hauptsächlich aus dem Grunde aufgeführt wurden, weil die Leserschaft sie erwartete oder weil er meinte, ein thematisches Gebiet abdecken zu müssen. Ganz offensichtlich etwa hält Pringle nichts vom literarischen Schaffen Isaac Asimovs: Selbst an dem hier aufgenommenen Werk The End of Infinity lässt er kaum ein gutes Haar.
Also los, die nun folgende Liste ist streng chronologisch geordnet: Nr. 1 erschien 1949, Nr. 100 im Jahre 1984. David Pringle selbst erklärt im Buch nicht ausdrücklich, welche Romane für ihn zu den oberen 25 Prozent gehören und welche die 10 Prozent populäre Gurken sind. Ich habe also Mutmaßungen angestellt, deren Ergebnis ich farblich ausdrücke. Alle Werke, die Pringle besonders lobte, erscheinen hier in roter Schrift, die potenziellen Gurken dagegen in Grün:
1. George Orwell - Nineteen Eighty-Four [1984]
2. George R. Stewart - Earth Abides [Leben ohne Ende]
3. Ray Bradbury - The Martian Chronicles [Die Mars-Chroniken]
4. Robert A. Heinlein - The Puppet Masters [Die Marionetten-Spieler]
5. John Wyndham - The Day of the Triffids [Die Triffids]
6. Bernard Wolfe - Limbo [Limbo]
7. Alfred Bester - The Demolished Man [Demolition]
8. Ray Bradbury - Fahrenheit 451 [Fahrenheit 451]
9. Arthur C. Clarke - Childhood’s End [Die letzte Generation]
10. Charles L. Harness - The Paradox Men [Der Mann ohne Vergangenheit]
11. Ward Moore - Bring the Jubilee [Der große Süden]
12. Frederik Pohl & C. M. Kornbluth - The Space Merchants [Eine Handvoll Venus oder Ehrbare Kaufleute]
13. Clifford D. Simak - Ring Around the Sun [Schlüssel zur anderen Welt]
14. Theodore Sturgeon - More Than Human [Die Ersten ihrer Art]
15. Hal Clement - Mission of Gravity [Unternehmen Schwerkraft]
16. Edgar Pangborn - A Mirror for Observers [Der Beobachter]
17. Isaac Asimov - The End of Eternity [Am Ende der Ewigkeit]
18. Leigh Brackett - The Long Tomorrow [Am Morgen einer anderen Zeit]
19. William Golding - The Inheritors [Die Erben]
20. Alfred Bester - The Stars My Destination [Die Rache des Kosmonauten aka Tiger! Tiger!]
21. John Christopher - The Death of Grass [Das Tal des Lebens]
22. Arthur C. Clarke - The City and the Stars [Die sieben Sonnen]
23. Robert A. Heinlein - The Door into Summer [Tür in die Zukunft]
24. John Wyndham - The Midwich Cuckoos [Kuckuckskinder]
25. Brian W. Aldiss - Non-Stop [Fahrt ohne Ende]
26. James Blish - A Case of Conscience [Der Gewissensfall]
27. Robert A. Heinlein - Have Space-Suit - Will Travel [Die Invasion der Wurmgesichter]
28. Philip K. Dick - Time Out of Joint [Zeit aus den Fugen aka Zeitlose Zeit]
29. Pat Frank - Alas Babylon
30. Walter M. Miller - A Cantible for Leibowitz [Lobgesang auf Leibowitz]
31. Kurt Vonnegut - The Sirens of Titan [Die Sirenen des Titan]
32. Algis Budrys - Rogue Moon [Projekt Luna]
33. Theodore Sturgeon - Venus Plus X [Venus Plus X]
34. Brian W. Aldiss - Hothouse [Am Vorabend der Ewigkeit]
35. J. G. Ballard - The Drowned World [Karneval der Alligatoren aka Paradiese der Sonne]
36. Anthony Burgess - A Clockwork Orange [Uhrwerk Orange]
37. Philip K. Dick - The Man in the High Castle [Das Orakel vom Berge]
38. Robert Sheckley - Journey Beyond Tomorrow
39. Clifford D. Simak - Way Station [Raumstation auf der Erde]
40. Kurt Vonnegut - Cat’s Cradle [Katzenwiege]
41. Brian W. Aldiss - Graybeard [Aufstand der Alten aka Graubart]
42. William S. Burroughs - Nova Express [Nova Express]
43. Philip K. Dick - Martian Time-Slip [Mozart für Marsianer aka Marsianischer Zeitsturz]
44. Philip K. Dick - The Three Stigmata of Palmer Eldritch [LSD-Astronauten aka Die drei Stigmata des Palmer Eldritch]
45. Fritz Leiber - The Wanderer [Wanderer im Universum]
46. Cordwainer Smith - Norstrilia [Der Planetenkäufer + Die Untermenschen]
47. Philip K. Dick - Dr. Bloodmoney [Nach der Bombe]
48. Frank Herbert - Dune [Der Wüstenplanet]
49. J. G. Ballard - The Crystal World [Kristallwelt]
50. Harry Harrison - Make Room! Make Room! [New York 1999]
51. Daniel Keyes - Flowers for Algernon [Blumen für Algernon aka Charly]
52. Roger Zelazny - The Dream Master [Herr der Träume]
53. John Brunner - Stand on Zanzibar [Morgenwelt]
54. Samuel R. Delany - Nova [Nova]
55. Philip K. Dick - Do Androids Dream of Electric Sheep? [Träumen Roboter von elektrischen Schafen? aka Blade Runner]
56. Thomas M. Disch - Camp Concentration [Camp Concentration]
57. Michael Moorcock - The Final Programme [Miss Brunners letztes Programm]
58. Keith Roberts - Pavane [Pavane]
59. Angela Carter - Heroes and Villains [Helden und Schurken]
60. Ursula K. LeGuin - The Left Hand of Darkness [Winterplanet aka Die linke Hand der Dunkelheit]
61. Bob Shaw - The Palace of Eternity [Die blendendweiße Sonne]
62. Norman Spinrad - Bug Jack Barron [Champion Jack Barron]
63. Poul Anderson - Tau Zero [Universum ohne Ende]
64. Robert Silverberg - Downward to the Earth [Die Mysterien von Belzagor]
65. Wilson Tucker - The Year of the Quiet Sun [Das Jahr der stillen Sonne]
66. Thomas M. Disch - 334 [Angoulême]
67. Gene Wolfe - The Fifth Head of Cerberus [Der fünfte Kopf des Zerberus]
68. Michael Moorcock - The Dancers at the End of Time [Trilogie] [Am Ende der Zeit]
69. J. G. Ballard - Crash [Crash]
70. Mack Reynolds - Looking Backward, From The Year 2000
71. Ian Watson - The Embedding [Das Babel-Syndrom]
72. Suzy McKee Charnas - Walk to the End of the World [Tochter der Apokalypse]
73. M. John Harrison - The Centauri Device [Die Centauri-Maschine]
74. Ursula K. Le Guin - The Dispossessed [Planet der Habenichtse aka Die Entrechteten]
75. Christopher Priest - Inverted World [Der steile Horizont aka Die Stadt]
76. J. G. Ballard - High-Rise [Der Block aka Hochhaus]
77. Barry N. Malzberg - Galaxies
78. Joanna Russ - The Female Man [Planet der Frauen]
79. Bob Shaw - Orbitsville [Orbitsville]
80. Kingsley Amis - The Alteration [Die Verwandlung]
81. Marge Piercy - Woman on the Edge of Time [Die Frau am Abgrund der Zeit]
82. Frederik Pohl - Man Plus [Mensch +]
83. Algis Budrys - Michaelmas [Michaelmas]
84. John Varley - The Ophiuchi Hotline [Der heiße Draht aus Ophiuchi]
85. Ian Watson - Miracle Visitors [Zur anderen Seite des Mondes]
86. John Crowley - Engine Summer [Maschinensommer]
87. Thomas M. Disch - On Wings of Song [Auf Flügeln des Gesangs]
88. Brian Stableford - The Walking Shadow [Zeitsprünge]
89. Kate Wilhelm - Juniper Time [Wacholderzeit]
90. Gregory Benford - Timescape [Zeitschaft]
91. Damien Broderick - The Dreaming Dragons [Die träumenden Drachen]
92. Octavia A. Butler - Wild Seed [Wilde Saat]
93. Russell Hoban - Ridley Walker
94. John Sladek - Roderick / Roderick at Random [Robot Roderick]
95. Gene Wolfe - The Book of the New Sun [Das Buch der neuen Sonne]
96. Philip José Farmer - The Unreasoning Mask [Die toten Welten des Bolg]
97. Larry Niven & Jerry Pornelle - Oath of Fealty [Todos Santos]
98. Michael Bishop - No Enemy But Time [Nur die Zeit zum Feind]
99. John Calvin Batchelor - The Birth of the People’s Republic of Antarctica [Aufstieg und Fall der Volksrepublik Antarktis]
100. William Gibson - Neuromancer [Neuromancer]