Reihe: Reisende im Wind, 1. Band Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
1780.
Mit 775 Männern (und Knaben) als Besatzung ist das französische Kriegsschiff Foudroyant auf dem Weg in tropische Regionen. Mit an Bord sind zwei junge Frauen, von deren Existenz zuerst nur der 1. Kapitän, Benoït de Roselande, weiß - später dann auch der bretonische Vollmatrose Hoel Marie Tragan. Als der eines Tages von einem ausgesetzten Beiboot aus zwei weibliche Gestalten auf dem Achterbalkon des Schiffes entdeckt, treibt ihn seine Neugier nach Einbruch der Dunkelheit zu einer Kletteraktion die Außenwand des Schiffes entlang, zu den Fenstern der Offizierskajüten. Tatsächlich entdeckt er die beiden jungen Frauen, wird aber dabei von der Deckwache ertappt.
Das hat für ihn schlimme Folgen. Auf einem Kriegsschiff, auf dem viele Matrosen zum Dienst gepresst wurden und Meuterei stets als latente Bedrohung in der Luft liegt, werden Übertretungen - und ein einfacher Matrose hat bei den Offizierskajüten nichts zu suchen - streng geahndet. Hoel ist klug genug, kein Wort über die Frauen zu verlieren und stattdessen eine windelweiche Ausrede zu erfinden. Trotzdem wären seine Tage gezählt ohne die Intervention Isabeau de Marnayes, die ihn heimlich in seiner Arrestzelle aufsucht und ihm die Rettung verspricht im Austausch für sein Versprechen, ihr irgendwann einen Dienst zu erweisen, ohne Fragen zu stellen. Hoel hat keine Wahl und willigt ein.
Am nächsten Tag wird Hoel öffentlich einer grausamen Tortur unterzogen. Die Foudroyant wirft Anker, und zwar genau den, an den zuvor Hoel gefesselt wurde. Diese Prozedur, „la grande cale“ genannt, ist seit Jahren offiziell aus dem Marinestrafrecht gestrichen, weshalb ihre Ausführung die einfache Besatzung in Rage versetzt. Verschlimmert wird die Lage noch dadurch, dass Hoel bei der Ausführung fast stirbt. Er kommt nur deshalb mit dem Leben davon, weil Isabeau die heimlich vom Schiffsgendarmen (auf Französisch: le prévôt) auf Geheiß seines Kapitäns manipulierte Ankerwinde zerschießt. De Roselande wird nun argwöhnisch und beauftragt den Gendarmen, die Mitwisserin Isabeau zu ermorden. Dies widerum bemerkt Hoel. Er rettet Isabeau, indem er den Attentäter erschlägt. Anschließend lässt er die Tat wie einen Unfall aussehen und wird von Isabeau zum Liebhaber erwählt.
In der Folgezeit verschlechtert sich das Klima an Bord rapide. Die abergläubischen Matrosen sehen in dem ‚Unfalltod’ ein böses Zeichen und murren. Benoît de Roselande beschließt, die drohende Meuterei dadurch abzuwenden, dass er die englische Karibikflotte angreift. In der Nacht vor dem nahenden Seegefecht steigt Isabeau hinauf zu Hoel in den Ausguck und fordert sein Versprechen ein - er soll mit ihr fliehen. Zur Erklärung erzählt sie die Geschichte ihrer Jugend:
Agnès de Roselande wächst als kleines Kind mit ihrer Ziehschwester Isabeau de Marnaye auf dem Landsitz ihrer Familie auf. Die Mutter ist tot, der Vater nie da. Als die Mädchen 8 Jahre alt sind und der Vater doch einen Besuch ankündigt, schließen sie, einer Laune folgend, eine Wette ab: Sie wollen die Kleider und ihre Identitäten tauschen - nach sechs Jahren Abwesenheit wird der Vater den Schwindel gewiss nicht erkennen. Gesagt, getan. Simon de Roselande fährt mit einer Kutsche vor, lässt die Mädchen einsteigen, Agnès schläft ein und als sie wieder aufwacht, sind Vater und ‚Tochter’ in Paris ausgestiegen und sie selbst wird in ein Nonnenkloster abgeschoben. Die Ziehschwester hat ihre Rolle übernommen und sie ausgebootet.
Alle folgenden Beteuerungen nützen Agnès nichts. Sie ist gefangen in einer Umgebung, in der kindlicher Wiederstand nicht geduldet wird. Dass sie dadurch sarkastisch und zynisch wird und mit Vorliebe Tiere quält, macht ihre Lage nicht besser. Agnès - oder sagen wir besser: Isabeau, denn diesen Namen wird sie von nun an ihr Leben lang führen - schwört, sich dereinst an ihrer verräterischen Ziehschwester tödlich zu rächen. Ihrem Ziel kommt sie näher, als die neue Agnès sie fünf Jahre später aus schlechtem Gewissen vom Klosterleben befreit. Isabeau macht sich ihre Feindin sexuell hörig. Als sie jedoch im Folgejahr versucht, ihren Bruder Benoït de Roselande um Hilfe anzugehen, wird sie von diesem und seinen Offiziersfreunden reihum vergewaltigt.
Weitere zwei Jahre später soll die mittlerweile 16-jährige Agnès einem alten Mann in die Ehe gegeben werden. Dies weiß Isabeau dadurch abzuwenden, dass sie gemeinsam mit ihrer Rivalin Benoït mit seiner Vergewaltigung erpresst. Der Kapitän sieht sich gezwungen, die zwei Frauen bei seiner nächsten Seereise an Bord zu nehmen. Isabeau ist klar, dass er versuchen wird, sich ihrer früher oder später zu entledigen, aber sie gedenkt nicht, dabei tatenlos zuzusehen.
Damit schließt sich der Kreis, und im Ausguck der Foudroyant eröffnet das Morgengrauen den Blick auf die englische Kriegsflotte ...
François Bourgeons fünfbändiger Zyklus Reisende im Wind gilt unbestritten als Klassiker des französischen Erwachsenencomics (also der Graphic Novel). Als Bourgeon 1979 dem Verleger Jacques Glénat den ersten, im Alleingang geschaffenen Band seiner Reihe vorlegte, war er noch ein relativ unbeschriebenes Blatt. Dennoch unterschied sich sein Werk in vielem von dem, was damals gang und gäbe war. Von vornherein war für Bourgeon klar, dass seine Geschichte nach fünf Bänden einen Abschluss finden würde, obwohl doch zu dieser Zeit der Markt von Endlosserien dominiert wurde. Auch bei der Bildgestaltung sowie -dramaturgie beschritt Bourgeon neue Wege: Wiewohl er durchaus die meisten Seiten wie seine Kollegen in Zeilen mit mehreren Panels einteilte, variierte die Größe der einzelnen Bilder doch beträchtlich. Daneben streute er immer wieder ganzseitige Bilder ein, in die kleinere Bilder eingefügt waren.
Die einzelnen Panels sind einerseits gekennzeichnet durch den Detailreichtum der Gegenstände. Erwähnt sei beispielhaft das Kriegsschiff, bei dem man den Eindruck hat, dass es genau nach historischen Vorlagen auf dem Zeichenbrett entstand (die Idee zur Serie kam Bourgeon übrigens überhaupt erst, als er sich einmal ein Schiffsmodell aus der Zeit baute). Gleichzeitig scheinen die anatomischen Proportionen der Menschen realistisch und ungeschönt, ohne dass der Zeichenstil dabei jemals fotorealistisch würde. Was mich an Bourgeons Bildern wohl am nachhaltigsten beeindruckt, ist der deutlich erkennbare Einfluss der Glasmalerei (ein Handwerk, das der Künstler als junger Mann an der Pariser Ecole des Métiers d'Art erlernte). Vermutlich liegt das daran, dass mir dieser Zeichenstil, der sonst oft zur Illustration von Heiligengeschichten benutzt wird, sehr passend scheint für ein Plot larger than life mit einer dem entsprechenden Protagonistin.
Apropos Plot: Bourgeons Geschichte unterschied sich 1979 deutlich vom herrschenden Mainstream. Das Leben auf einem französischen Kriegsschiff schildert der Autor fernab aller Errol-Flynn-Romantik in einer Drastik, die ich in der Literatur nur aus den Aubrey/Maturin-Romanen Patrick O’Brians kenne. Das Los der gemeinen Seeleute wurde weiter oben bereits erwähnt, und das Seegefecht am Ende von Band 1 lässt an Blutigkeit nichts zu wünschen übrig. Für den Verleger Glénat wurde darüber hinaus die Protagonistin Isabeau de Marnaye zum Risiko: Eine Frau, die offen eine lesbische Beziehung lebt und offensiv mit ihren sexuellen Bedürfnissen umging, war ... ungewohnt. Wobei mir an dieser Stelle leise Zweifel an der Wahrscheinlichkeit eines solchen Charakters kamen: Ist es realistisch, dass ein 16-jähriges Mädchen offen eine sexuelle Beziehung zu einem Mann sucht, wenn es zwei Jahre zuvor vergewaltigt wurde? Andererseits ist Isabeau ganz offensichtlich für ihren Schöpfer weit mehr als irgendein gewöhnliches Mädchen, und ganz allgemein stellt sich hier ein Problem, das in der Comicliteratur zwangsläufig auftritt:
Es scheint mir offensichtlich, dass jede Art der Charakterzeichnung in einer Graphic Novel knapper, holzschnittartiger ausfallen muss als in einem Prosatext von Romanlänge. Auf meist nur 50 Seiten, die sich der Text noch mit den Bildern teilen muss, steht schlicht nicht der Raum zur Verfügung, um langwierige psychologische Prozesse überzeugend darzustellen. Entsprechend muss man sich als Leser/Betrachter selbst bei einem dialoglastigen Werk wie La fille sous la dunette oft die Beweggründe der Personen dazudenken, muss sich vorzustellen versuchen, was im weißen Rand zwischen zwei Panels passiert ist. Nehmen wir als Beispiel dafür den Moment, als die falsche Agnès die echte Agnès aus dem Nonnenkloster zurück ‚nach Hause’ holt. Auf der Rückfahrt in der Kutsche verführt Isabeau zielstrebig das Waisenmädchen, welches sie vor fünf Jahren verriet, und dessen einzige Reaktion ist: „Mm ... Tire au moins les rideaux.“ [S. 26; auf Deutsch: „Mm ... Zieh wenigstens die Vorhänge zu.“] Isabeaus Motivation ist klar und wird auch im Text erklärt: Sie muss ihre Rivalin von sich abhängig machen, weil nur deren Schutz sie vor dem Kloster ... oder der Gosse trennt. Über Agnès’ Beweggründe dagegen kann man nur Mutmaßungen anstellen: Hat ihr ihre Ziehschwester so sehr gefehlt, dass sie jetzt (fast) alles täte, um sie zu versöhnen? Macht sie ihr schlechtes Gewissen nachgiebig gegenüber ihrer Verführerin? Oder haken wir diese Wendung schlicht als einen Trick Bourgeons ab, mit dessen Hilfe er logische Löcher in seinem Plot flickt? Immerhin muss er als Autor die beiden Frauen zusammen auf den Landsitz der Roselandes und schließlich auf die Foudroyant bringen.
Szenen wie die oben erwähnte verlangen vom Leser einen Glaubenssprung - oder die Einstellung, dass das Wichtigste an einer Graphic Novel eh die Bilder sind? Letzterer Ansicht neige ich stark zu: Wer einmal ein Werk wie Les passagers du vent in Händen hielt, wird beim Anblick der platten, schattenlosen Farbgebung eines „Lustigen Taschenbuchs“ aus dem Hause Disney trübsinnig. Dessen ungeachtet ist es in den Passagers die Kombination aus Text und Bild, die Isabeau de Marnaye zu einer Heroine größer als das Leben macht. Sie bekommt von Bourgeon alle guten Sätze, die oftmals direkt einem Stück von Schiller oder einem Schauerroman entstammen könnten. Ihrem Gesicht sieht man auf jedem Bild den Charakter und die Entschlossenheit an. Ihre ‚Ziehschwester’, die ihr äußerlich so ähnelt, ist im Vergleich dazu bis zum Finale ein reines Nichts mit trüben, schläfrigen Augen, ein Stück Kulisse innerhalb des Schauspiels so wie fast alle auftretenden Personen. Auch Hoel (blond, auf sympathische Weise attraktiv, ‚gut’), Benoït de Roselande (verschlagen, typisch erzschurkenhaft ‚böse’) und vielleicht noch der 2. Kapitän der Foudroyant, der seinem 1. Kapitän an seemännischem Wissen unendlich überlegen ist, füllen in Band 1 neben der romantischen Heldin nur die Bühne auf. Immerhin gewinnt Agnès gegen Ende völlig überraschend an Statur. Charakter blitzt kurz auf, hat aber nicht den Raum, umfassend erklärt zu werden. Innerhalb weniger Bilder - drastisch und beeindruckend, wie es in dieser Kürze vielleicht nur in Graphic Novels möglich ist? - gewinnt und behält die Person Agnès de Roselande ein ‚Geheimnis’, das aus einer Leerstelle ein faszinierendes Wesen macht. Besteht womöglich auch Hoffnung für Hoel in den Bänden 2 bis 5? Und was ist mit dem 2. Kapitän der Foudroyant? Der war ganz gewiss eine Person mit dramatischem Potenzial!
Bevor ich mich in meiner nächsten Rezension dem zweiten Band, Le ponton (auf Deutsch: Das Gefängnisschiff), zuwende, noch eine Bemerkung: Mehr als bei reinen Prosatexten ist für meinen Geschmack die Titelseite einer Graphic Novel integraler Bestandteil des Werkes. Wenn ich nun meine Ausgabe aus dem Jahre 1988 mit der aktuellen deutschen Splitter-Ausgabe vergleiche, fällt auf, dass Isas Gesichtszüge signifikant verändert wurden - für meinen Geschmack sieht sie nun glatter, austauschbarer aus - und das Titelbild stylistisch wenig mit den Panels im Buch zu tun hat. Ich vermute, dass der ‚Look’ der Titelbilder an den Zeichenstil des 6. Bandes, Das Mädchen vom Bois Caïman, den Bourgeon 2009 veröffentlichte und der in deutscher Übersetzung jetzt auch bei Splitter erscheint, angepasst wurde. Verständlich wäre das schon, gefallen muss es mir nicht.