Serie: Sandman, Band 7 Eine Besprechung / Rezension von Frank Drehmel |
Die emotional labile Delirium, die jüngste Schwester der Ewigen, vermisst aus tiefstem Herzen ihren Bruder Destruction, der vor 300 Jahren aus der Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit heraus der Familie endgültig den Rücken gekehrt hat, um nicht länger mit dem Leben, den Träumen und Wünschen der Sterblichen spielen zu müssen, sondern sich stattdessen selbst zu verwirklichen. In Gesellschaft des sprechenden Hundes Barnabas übt sich der blonde Hüne, der einstmals die personifizierte Zerstörung war, in seinem geheimen Exil auf einer kleinen ägäischen Insel nunmehr gut gelaunt in verschiedensten Künsten - angefangen bei der Malerei über die Poesie bis hin zur Kochkunst.
Auch wenn sie ahnt, dass ihr Bruder nicht gefunden werden will, kann sich Delirium nicht mit seinem Verschwinden abfinden und bittet ihre Geschwister, sie bei ihrer Suche zu unterstützen. Während ihr die Schwestern Desire und Despair eine Absage erteilen, willigt Dream ein, sie in die Wachwelt zu begleiten. Allerdings möchte Morpheus den Bruder gar nicht finden, sondern im Reich der Menschen lediglich seine eigene Trauer über den Verlust einer großen Liebe vergessen.
Zudem gestalten sich die Nachforschungen der beiden Ewigen schwieriger als erwartet, denn selbst uralte Freunde wie Pharamond oder die ehemalige Göttin der Liebe, Ishtar, können nicht einmal vage Hinweise auf den Verbleib Destructions liefern, so dass Dream beschließt, die Suche, an der ihm ohnehin nicht viel liegt, aufzugeben und in sein Traumreich zurückzukehren. Da er dort jedoch keine innere Ruhe findet und zudem gegenüber Delirium, die ebenfalls kurz davor steht, ihre Domäne endgültig aufzugeben, Verantwortung empfindet, startet er zusammen mit seiner Schwester einen neuen Versuch.
Die beiden begeben sich zunächst in die Gefilde ihres Bruders Destiny, der ihnen zwar nicht konkret weiterhelfen kann, ihnen jedoch ein Wesen, ein Orakel nennt, das Informationen über den Verbleib Destructions besitzt: Orpheus, der Sohn des Traumkönigs, der Sohn, dessen Leib vor Jahrtausenden zerrissen und dessen Kopf zu ewigem Leben verdammt wurde. Doch der Besuch bei Orpheus bedeutete den Bruch eines Versprechens, das sich Morpheus einst selbst gegeben hat.
Im Fokus des vorliegenden Story-Arcs, der ursprünglich die Hefte #41 bis #49 der 1989er-Sandman-Serie umfasste, stehen - anders als vermutet - weniger die kurzlebigen Menschen als vielmehr die Ewigen, jene Wesenheiten, die Destruction in seiner Rechtfertigung gegenüber seinem Bruder Dream als bloße Muster, als Wellenfunktionen, als sich wiederholende Motive bezeichnet.
Neil Gaiman versteht es wie kein zweiter Comic-Autor, Geschichten zu erzählen, die so philosophisch, so tiefgründig wie leicht sind, die den Leser sowohl in magische Gefilde als auch die raue Realität führen, Geschichten voller unprätentiöser Anspielungen auf Literatur, Kunst oder Historie, Geschichten, die bevölkert sind von bizarren und skurrilen Wesen, von Göttern, Fleisch gewordenen Träumen, sprechenden Tieren und Puppen oder einfachen Menschen, die der Kontakt mit den Wesenheiten jenseits ihrer Vorstellung auf die eine oder andere Weise gezeichnet hat.
Auch „Kurze Leben“ steht ganz in dieser Linie phantastischer und fantastisch gehaltvoller Comics, denen man sich als Leser sowohl intuitiv und unbefangen als auch analytisch-rational nähern kann. Die Grundthemen dieses siebten Bandes sind Verantwortung und Wandel, d. h. die Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit von Veränderung, die Erkenntnis, dass nichts von Dauer ist. Während seine Geschwister den Wandel ihrer Bedeutung für die Sterblichen entweder fürchten - Despair, Desire und auch Delirium - oder ihn aus trotzigem Pflichtgefühl verteidigen - Dream -, ist lediglich Destruction bereit, die Menschen in eine Freiheit zu entlassen, in der die Zerstörung des Alten, des Guten oder Bösen alleine in ihrer Verantwortung liegt, und damit letztlich das eigene Ende zu beschließen. Die Dialoge, in denen der Renegat seine Position deutlich macht, sind nicht nur Mittelpunkt und Highlight dieses Zyklus, sondern gehören trotz einiger Widersprüchlichkeiten und offener Fragen zum Besten, was der Comic-Mainstream zu bieten hat.
Vom Handlungsaufbau her ist „Brief Lives“ ebenfalls ein typischer Gaiman-Comic: In den eigentlichen Handlungsstrang sind kleine Nebengeschichten eingewoben, die zwar die Handlung nicht vorantreiben, in denen sich jedoch das Grundthema - hier „Wandel“ - z. B. in der Transformation eines Schamanen widerspiegelt und die auf einer eher emotionalen Ebene zum Verständnis beitragen.
Das leichte Artwork Jill Thompsons und ihrer Mit-Künstler ist mit seiner zurückhaltenden, z. T. unscharfen Skizzierung von Bildelementen sowie der unaufdringlichen Koloration gerade in Zeiten, in denen in barock überladenen Bildern posende Superhelden düster und dumpf vor sich hin starren, sicherlich nicht jedermanns Sache, unterstützt und verstärkt jedoch perfekt Gaimans Erzählstil durch das Schaffen visueller und damit gedanklicher Freiräume.
In editorischer Hinsicht sind zwei Dinge anzumerken. Zum Ersten ist das Druckbild stellenweise suboptimal, d. h. auf einigen, verstreuten Seiten sind die Bilder leicht verschwommen, was insbesondere im direkten Nebeneinander zwischen unscharfem und scharfem Druck augenfällig ist. Zweitens reiht sich das Nachwort Peter Straubs nahtlos in die schwafeligen, weitschweifigen Pseudo-Analysen anderer Sandman-Nach-/Vorwortschreiber wie Samuel R. Delany oder Stephen King ein und ist damit aus meiner Sicht überflüssig wie ein Kropf.
Fazit: Die tiefgründige, fesselnde Geschichte und das stimmige Artwork machen auch diesen siebten Band der Sandman-Reihe zu einer uneingeschränkten Empfehlungen für Freunde „literarischer Comics“.