Reihe: Schloss-Serie, Band 1 Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
"Im Lande Ingari, wo Dinge wie Siebenmeilenstiefel und Tarnkappen wirklich existieren, gilt es als ziemliches Pech, als ältestes von drei Geschwistern geboren zu werden. Alle wissen, dass das älteste Kind am schnellsten und am schlimmsten versagen wird, wenn die drei sich aufmachen, um ihr Glück zu suchen.
Sophie Hatter war die älteste von drei Schwestern. Sie war nicht das Kind eines armen Holzfällers, denn dann hätte sie vielleicht doch eine Hoffnung auf Erfolg gehabt." [S. 11]
Wer Hayao Miyazakis Spielfilm Das wandelnde Schloss aus dem Jahre 2004 kennt, erinnert sich wahrscheinlich an waffenstarrende, riesige Luftschiffe, an Krieg und Zerstörung. Als er das Drehbuch zu seinem wohl letzten Film verfasste, stand der berühmte japanische Regisseur stark unter dem Eindruck des US-amerikanischen Einmarsches in den Irak. Diana Wynne Jones' Jugendbuch aus dem Jahre 1986 hat mit dem Zeichentrickfilm die Ausgangssituation gemein sowie einige wichtige Charaktere. Ansonsten erzählt es jedoch eine in Ton und Inhalt grundverschiedene Geschichte. Wo der Film Schrecken und Willkür des Krieges anklagt, erzählt der Roman mit einem humorvoll-ironischen Augenzwinkern eine phantastische Geschichte, in der letztlich nur wenige fühlende Wesen dauerhaft sterben und sich auch für die Romantik ein wenig Raum findet.
In dem kleinen Ort Market Chipping im Lande Ingari arbeitet die achtzehnjährige Sophie Hatter seit dem Tode ihres Vaters tagein tagsaus in dem Hutladen, den nun ihre (gar nicht böse) Stiefmutter leitet. Weil der Vater zu Lebzeiten sein ganzes Erspartes für die Erziehung seiner drei Töchter ausgab, sieht Stiefmutter sich gezwungen, Sophies jüngere Schwestern (bei einer Hexe bzw. der besten Konditorei am Platze) in die Lehre zu schicken. Nur Sophie, die offenbar ein ganz besonderes Händchen für die Hutmacherei hat, bleibt zu Hause. Tagsüber steht sie hinter der Ladentheke; abends dann, wenn andere sich ausruhen, werkelt sie an den neuen Kopfbedeckungen, die sich im Ort immer größerer Beliebtheit erfreuen. Unter die Leute kommt sie bei dieser Lebensweise nie, und das findet sie auch ganz normal so. Schließlich ist sie die älteste Tochter - und welches Los denen blüht, weiß man ja.
Sophie versteckt sich hinter ihrer Arbeit und vor der Welt. Als sie sich dann doch einmal entschließt, am Maifeiertag ihre Schwester Martha in der Zuckerbäckerei Cesari zu besuchen, kommt dieser Spaziergang ihr bereits wie ein großes Wagnis vor. Unterwegs läuft das ebenso hübsche wie verhuschte Mädchen auch gleich einem ausnehmend attraktiven jungen Mann über den Weg, der sie anspricht und damit gleich in die Flucht schlägt. Sophie hat keine Ahnung, dass sie mit knapper Not dem berüchtigten Zauberer Howl entkommen ist, der angeblich Mädchenherzen isst und dessen wandelndes Schloss seit einiger Zeit auf den Hügeln nahe der Stadt zu sehen ist.
Einige Tage später dann ändert sich Sophies Leben von Grund auf. Am Morgen betritt eine strahlend schöne Frau ihren Laden und mokiert sich über die Qualität der ausgestellten Hüte. Nicht zum letzten Mal in diesem Buch beweist Sophie, dass sie ganz schön zickig sein kann, und geizt nicht mit drastischen Worten. Daraufhin tut die Kundin, was sie eh schon vorhatte: Sie verwandelt das Mädchen in eine neunzig Jahre alte Greisin, erklärt, sie sei "die Hexe der Wüste" und bemerkt noch süffisant: "Übrigens, von dem Zauber kannst du niemandem erzählen" [S. 40]. Dann zieht sie von dannen und wird lang nicht mehr gesehen.
Sophie wiederum schaut in den Spiegel und reagiert gelassen (oder doch eher schicksalsergeben?): "Keine Sorge, altes Haus ... jetzt siehst du wohl so aus, wie du dich fühlst." Ihren Schwestern oder ihrer Stiefmutter möchte sie in dieser Gestalt allerdings nicht begegnen. Also packt sie etwas Geld sowie Essbares ein und macht sich auf einen beschwerlichen Weg, der sie gegen Abend am Schloss von Zauberer Howl vorbeiführt. Ohne Umstände und mit beträchtlicher Lautstärke verschafft sie sich Einlass. Howls Lehrling, den 15-jährigen Michael Fisher, lässt sie einfach stehen, visiert den nächsten Sessel an und gönnt sich ein Nickerchen.
Am nächsten Morgen ist der Hausherr immer noch nicht da. Dafür erfährt Sophie einiges über das Wesen des Schlosses. Offenbar wurde es unter Mithilfe des Feuerdämons Calcifer erschaffen, der quasi als Kaminfeuer im einzigen großen Raum des Gebäudes haust. Calcifer erkennt gleich, dass Sophie verzaubert ist. Er jammert seiner Besucherin davon vor, wie schrecklich er ausgebeutet werde. Er sei gezwungen, sich täglich um das ganze Schloss zu kümmern, weil er durch einen Vertrag an Howl gebunden sei, über dessen Klauseln er ebenso wenig sprechen könne wie Sophie offenbar über den Grund ihrer Verzauberung. Nach einigem Hin und Her vereinbaren Sophie und Calcifer, sich gegenseitig dabei zu helfen, ihrer jeweiligen Notlage zu entkommen. Calcifer erwähnt noch, sowohl er als auch Howl würden immer wieder versteckte Hinweise auf den Inhalt des Vertrages geben. Nach solchen wird Sophie fortan 'Ausschau halten' (und mit ihr der Leser). Dann endlich erscheint der Hausherr selbst ... und entpuppt sich als der hübsche junge Mann vom Maifeiertag. Sophie erklärt ihm, sie sei die richtige Person, um seinen Saustall von einem Schloss auf Vordermann zu bringen ("... auch wenn ich dich nicht von deiner Verworfenheit befreien kann, junger Mann"). Und Howl lässt sie gewähren.
So wird das neunzigjährige Mädchen zum Bestandteil von Howls Haushalt und erfährt bald mehr über ihren neuen Dienstherrn: zum Beispiel, dass er unglaublich eitel und selbstmitleidig ist und ständig irgendwelchen Mädchenröcken hinterherjagt; dass er womöglich ein herzloser Herzensbrecher, aber auch ausgesprochen gutmütig ist; und dass er, als Hasenfuß par excellence, das wandelnde Schloss geschaffen hat, um besser vor seiner rachsüchtigen früheren Angebeteten - der Hexe der Wüste - fliehen zu können, die ihm mittlerweile ans Leder will, um mit seiner Hilfe (wie man später erfährt, benötigt sie eigentlich nur - schluck - seinen Kopf) das Königreich Ingari zu unterjochen.
Über der Eingangstür des Schlosses befindet sich ein Drehknauf mit vier verschiedenfarbigen Punkten. Je nachdem, welcher Punkt nach unten zeigt, führt die Tür zu vier verschiedenen Orten: einmal natürlich zu den Hügeln bei Market Chipping, wo sich Howl die Leute mit selbstgestreuten Gerüchten über seine angeblichen Untaten vom Leibe hält. Der zweite Ort ist die Hafenstadt Porthaven, wo er als Zauberer Jenkins bekannt ist. Die dritte Farbe führt zu einem ehemaligen Pferdestall in der prächtigen Hauptstadt Kingsbury, wo man Howl als Pendragon kennt. Die vierte Farbe schließlich führt in eine andere Welt, genauer genommen eine Wohnsiedlung irgendwo in Wales, wo der 27-jährige Dr. Howell Jenkins regelmäßig seine (nichts ahnende) Schwester und deren Familie besucht, sich dabei Vorhaltungen darüber machen lässt, welch ein schrecklicher Underachiever er sei, und wo er immer noch als Stürmer für sein altes College-Rugbyteam spielt (und so manches Pint stemmt).
Im Verlaufe dieses Romans, in dem ständig der Schein trügt, müssen die Hauptpersonen diverse amouröse Irrungen entwirren. Gleichzeitig aber geht es um den geheimnisvollen Vertrag zwischen Howl und Calcifer - und um den Fluch, den die Hexe der Wüste Howl hinterhergeschickt hat. Für diesen Fluch benutzt sie die ersten zwei Strophen eines Gedichts von John Donne (ca. 1572-1631; Text siehe unten). Dessen Zeilen finden sich inhaltlich in der Geschichte wieder (und strukturieren sie). Howl sieht, wie sich der Fluch langsam bewahrheitet und sieht mit Bangen seinem 10000. Lebenstag entgegen, der vor der Tür steht ...
Schon in den ersten Sätzen ihres Romans (die ich zu Beginn der Rezension zitiert habe) zeigt Diana Wynne Jones, dass sie völlig unpathetisch ein modernes Märchen erzählen möchte - für Leser von heute, die mit traditionellen Märchen wohlvertraut sind. Jones vermischt in ihrer Geschichte - gekonnt und manchmal auch anrührend - viele bekannte Motive: von der bösen Hexe bis zu den Siebenmeilenstiefeln, von der (wunderbaren) Sternschnuppe bis zur hüpfenden Vogelscheuche. In diese Szenerie hinein versetzt sie allerdings Charaktere, die sich auf uns vertraute Weise benehmen. Das fällt schon auf der sprachlichen Ebene auf. Wenn sich Howl etwa nach einem zwischenzeitlichen K.O. mit dem Ausruf "Meine Fresse" wieder aufrappelt, passt das genauso zu Jones' ironischem Erzählton wie Marthas Ermahnungen, Sophie solle nicht an dem Hutladen "festkleben", oder die Standpauken von Howls Schwester gegenüber ihrem Loser-Bruder.
Ganz besonders geht es in Sophie im Schloss des Zauberers natürlich um Sophie, aus deren Warte die Handlung erzählt wird, und Howl. Beide sindin unterschiedlicher Hinsicht Angsthasen, die nur dann zu großer Form auflaufen, wenn man ihnen alle Fluchtmöglichkeiten verstellt. Bei ihrer ersten lauteren Auseinandersetzung (S. 92) - es geht vordergründig um Ordnung vs. Schlampigkeit - wirft Sophie ihm (zurecht) vor:
"Du bist ein Drückeberger, das bist du! Du drückst dich vor allem, was dir nicht passt!"
Howls (zutreffende) Retourkutsche kommt wenig später:
"'Jetzt fängst du schon wieder an', sagte er. 'Du musst solche Magddienste ja wirklich lieben!'"
Damit trifft er den Nagel auf den Kopf. Sophie verdrängt gerne Fragen über ihr Leben dadurch, dass sie die Arme hochkrempelt. Früher hat sie sich hinter ihren Hüten und Hutmacherpflichten versteckt, nun dafür hinter ihrer Rolle als Haushälterin und - wie sich zeigen wird - alte Frau. Sophie vermeidet es ständig, aus sich hinauszugehen und sich den Menschen zu öffnen. Howl andererseits hat, ganz konkret, Angst vor der Hexe (und der Macht, die hinter ihr steht). Er wäre aber (jetzt bloß nicht zu viel verraten!) auch ohne seinen Vertrag mit Calcifer eitel und wehleidig. Am extremsten tritt dies in einer Szene zutage, die auch in Miyazakis Verfilmung vorkommt: als nämlich Howl vor lauter Selbstmitleid massenweise grünen Schleim absondert. Wenn Howl sich wieder einmal stundenlang zurechtmacht, um irgendwo einer Frau den Hof zu machen, will die Autorin implizit ihrer (jungen) Leserschaft zeigen, dass oberflächliche Menschen auch nur zu oberflächlichen Beziehungen fähig sind (didaktisch! didaktisch!). Aber wirklich störend wirkt dieser erhobene Zeigefinger auf den Leser nicht. Außerdem wird sich noch zeigen, dass viele von Howls negativen Eigenheiten vor allem durch den ominösen Vertrag bedingt sind.
Gelegentlich kamen mir während der Lektüre Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Sophies Verhalten. Jeden Schicksalsschlag nimmt sie hin. Aber natürlich wäre echtes Grauen nicht mit der humorvollen Grundtonlage des Buches vereinbar gewesen. Und gerade diese Tonlage wird gewiss dafür sorgen, dass ich Sophie im Schloss des Zauberers in einigen Jahren wieder (und dann zum dritten Mal) lesen werde.
Im zweiten Band der Schloss-Reihe spielen Sophie und Howl übrigens Nebenrollen, bei denen erst am Ende klar wird, dass es doch fast schon Hauptrollen waren. Viel zu viele Prinzessinnen (Castle in the Air) bietet ebenfalls kurzweilige Unterhaltung, kann für meinen Geschmack (u.a. wegen der gerade angedeuteten Hauptrollen-/Nebenrollen-Problematik) aber nicht an Band 1 heranreichen. In diesem Sommer erscheint Band 3, House of Many Ways, in dem Sophie und Howl wieder eine größere Nebenrolle spielen werden - und wo Howl daran zu knabbern haben wird, dass Sophie mittlerweile die angesehenere Zauberin ist. Immer dasselbe mit den Frauen ...
JOHN DONNE:
Go and catcha falling star
Get with child a mandrake root
Tell me where the past years are
Or who cleft the devil's foot
Teach me to hear the mermaid's singing
Or to keep off envy's stinging
And find what wind serves to advance an honest mind.
If thou beest born to strange sights,
things invisible to see
Ride ten thousand days and nights
Til age snow white hairs on thee
Thou when thou returnst will tell me
all strange wonders that befell thee
And swear nowhere lives a woman true and fair
"Geh, fang einen Stern, der fällt,
schwängere mir den Alraun,
sag: wo blieb die Zeit der Welt?
Wer hat des Teufels Huf zerhaun.
Lehr mich hör'n der Nixen Singen,
Wie der Neider Stachel zwingen,
dass ich find
welcher Wind
einem nutzt, der treu gesinnt.
Ist dir Wunderbares kund,
Unsichtbares offenbar,
Reit zehntausend Tage und
Bis dir Alter schneit aufs Haar.
Wenn du heimkehrst, sagst du offen,
Wunder, die du angetroffen,
Schwörst bereit,
Weit und breit,
Ist keine schön mit Lauterkeit.
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NICHT WEITERLESEN! SPOILER!
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"Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, ob du dich als das wunderschöne Mädchen entpuppen würdest, das mir am Maifeiertag begegnet ist ..."
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