Serie: Die Vier von der Baker Street, Band 1 |
Die Ende des 19. Jahrhunderts von Sir Arthur Conan Doyle erschaffene Figur des englischen Privat-Detektivs Sherlock Holmes gehört zweifelsohne zu den bekanntesten Charakteren der Literatur überhaupt, wobei dessen kongenialem Freund Dr. Watson kaum weniger Ehre gebührt. Doch die beiden Detektive agierten niemals im menschenleeren Raum, sondern wurden von zahlreichen Protagonisten mehr oder weniger unterstützt. Neben dem allseits bekannten Inspector Lestrade oder der guten Seele des Hause Holmes, Mrs. Hudson, gehören – wie Conan Doyle in "Eine Studie in Scharlachrot" und "Das Zeichen der Vier" andeutet - Diebe, Tagelöhner und Gossenjungen der Baker Street zu Holmes' Informanten. Eben diese "Baker Street Boys" dienen der Geschichte J.B. Djians und Oliver Legrands als Inspirationsquelle für das vorliegende Comic-Album.
Wir befinden uns im London des Jahres 1883: Die drei Straßenjungs Billy, Charlie und Black Tom bessern ihren Lebensunterhalt durch kleine Informantendienste für den berühmten Sherlock Holmes auf. Gerade wieder hat ein solcher Auftrag etwas Geld in ihre Taschen gespült, Geld, das Charlie und Billy am liebsten in Kuchen umsetzen möchten, während Black Tom dem zehnjährigen Blumenmädchen Betty ein Zeichen seiner Zuneigung zukommen lassen will. Gerade als der Junge vor Bettys Standort auftaucht, wird er Zeuge, wie fremde Männer das Mädchen in einer Kutsche entführen. Obgleich Tom sofort zu einer tollkühnen Verfolgungsjagd ansetzt, gelingt es ihm nicht, das Verbrechen zu vereiteln, er erhält aber immerhin einen Hinweis auf den Täter. Als die drei Jungen Sherlock Holmes um Hilfe bitten wollen, erfahren sie, dass der Detektiv und Dr. Watson gerade auf Reisen sind, und müssen sich daher alleine an die Aufklärung der Entführung machen.
Ihr erster Weg führt sie zum zwielichtigen Patch und seiner Bande aus Halunken. Doch diese Halsabschneider, mit denen sie schon früher zu tun gehabt haben, sind den drei Jungen nicht wohlgesonnen, sodass die Kinder Hals über Kopf fliehen müssen. Immerhin kann einer der Bettler aus Patch's Bande, welcher mit seinem Anführer noch eine Rechnung offen hat, den Kindern einen Namen nennen: Tobias Grimes. Die weiteren Ermittlungen im Milieu der Underdogs, der Huren und Halunken ergeben, dass Grimes ein skrupelloser Zuhälter ist, der die kleine Betty augenscheinlich in ein Edelbordell namens "Blauer Vorhang" verschleppt hat, um ihr dort Gewalt antun zu lassen. Während Charlie und Billy zur Vorsicht mahnen und einen Plan zur Rettung des Mädchens entwerfen wollen, zögert der wagemutige Tom keinen Moment, klettert an der Fassade des Hauses hoch, dringt in das Etablissement ein, und sieht sich unversehens mit den mörderischen Handlangern der Madame des Hauses konfrontiert. Doch auch für die beiden auf der Straße Zurückgelassenen wird die Situation brenzlig, denn auf einmal steht Grimes vor ihnen, ein Mann, der vor Mord nicht zurückschreckt.
Für die Leser, die sich fragen, wer die Nummer Vier in der Riege der Baker Street Boys ist: Es ist ein wohlgenährter Straßenkater, den Charlie im Laufe des Abenteuers fast schon beiläufig, ohne großen Aufhebens aufliest und dessen unfreiwilliger Kralleneinsatz die Kinder aus einer Bredouille rettet. Doch auch wenn durch das Einbinden eines Tiers in die Geschichte Erinnerungen an einschlägige Kinder- und Jugendroman-Serien geweckt werden, so ist der Grundtenor der vorliegenden Story ein eher erwachsener, da es sich bei aller erzählerischer Leichtigkeit und Actionorientiertheit um ein erfreulich plastisches – jedoch kein allzu drastisches - Sittengemälde der Londoner Unterklasse im viktorianischen London handelt, das mit seinen pauperistischen Anklängen stellenweise an Charles Dickens "Oliver Twist" erinnert.
Dass die Geschichte überhaupt ihr "deskriptives" Potenzial entwickeln kann – explizit gesellschaftskritische Töne halten sich in Grenzen –, liegt auch oder vielleicht sogar im Wesentlichen an David Etiens großartigem Artwork. Mit klarem Strich verleiht er mit viel Sinn sowohl für das zeitgenössische Dekors als auch für markante Figuren – die Protagonisten sind in ihren Körper- und Gesichtsproportionen leicht überzeichnet, ohne dass dieses karikaturhaft wirkt - und dynamische, kraftvolle Perspektiven seinen Bildern eine hinreißende Lebendigkeit bzw. Leichtigkeit. In der Koloration bedient sich der Künstler satter, gedeckter Farben, mit denen er den unterschiedlichen Handlungsorten jeweils eine ganz eigene Atmosphäre verleiht. Während er in den Szenen, die auf den taghellen Straßen, den Parks oder den Etablissements der Oberschicht angesiedelt sind, mit eher kühlen, ins Blaue oder Gelbe spielenden Tönen ein Gefühl der Distanziertheit, der Kälte und Verlorenheit vermittelt, dominieren in den Kaschemmen der Stadt warme, ins Rote spielende Farben, die ein Gefühl der Geborgenheit, aber auch der Enge erzeugen. Regelrecht grandios ist Etiens Umgang mit Licht und Schatten. Durch das Nebeneinander betont heller Flächen insbesondere in den Gesichtern, aber auch der Kleidung sowie sachten, nicht zu dunklen Verschattungen generiert er Volumen bzw. Tiefe und macht dadurch das einzelne Bild wie die ganze Seite zum einen visuell aufregend, verleiht zum anderen dem Ganzen aber auch eine leicht surreale Note, da der Lichteinfall nicht immer nachvollziehbar ist.
Fazit: Eine gleichermaßen spannende wie leichte Story, die den viktorianischen Hintergrund unaufgeregt und nicht zuletzt dank des grandiosen Artworks authentisch rüberbringt. Nicht nur für Jugendliche empfehlenswert.