Eine Rezension von Sonja Buddensiek |
"Mom ist mal kurz weggegangen", antwortete ich. "Was ist denn los?" Er seufzte, und einen Augenblick dachte ich, er würde es mir nicht sagen. Im Hintergrund hörte man andere Stimmen murmeln, doch ich konnte keine davon richtig verstehen. "Dad...", fing ich an. "Ich weiß noch keine Einzelheiten", sagte er da plötzlich ganz ruhig, "und hier reißen sich gerade alle ums Telefon, so dass ich im Moment nicht lange sprechen kann. Aber die Regierung ist zu dem Schluss gekommen, dass das Gebiet hier ein zu großes Risiko darstellt. Sie riegeln die Insel ab."
INHALT:
Chloe hat sich eigentlich immer nur gewünscht, normal und wie alle anderen zu sein. Von dieser Vorstellung kann sie sich jedoch verabschieden, als sie plötzlich beginnt, Geister zu sehen - und deswegen vor den Augen ihrer Mitschüler einen Zusammenbruch hat. Ihre Familie schickt sie nach Lyle House, wo noch weitere Jugendliche mit Problemen leben und wo ihr geholfen werden soll. Doch Chloe weiß, dass das, was sie gesehen hat, kein Schizophrenie bedingter Ausfall war. Und dann stellt sie fest, dass auch einige ihrer Mitbewohner besondere Kräfte haben...
MEINE MEINUNG:
Nach ihrem Debüt "Der Geist an meiner Seite" wagt sich die amerikanische Autorin Megan Crewe mit "Wir sind verbannt" ins Gefilde der Jugendthriller rund um eine Epidemie und deren Ausmaße. Der Schreibstil ist dabei sehr flüssig zu lesen und lässt den Leser durch die Ich-Perspektive an Kaelyns Gefühlswelt teilhaben. Der Roman selbst ist in Form eines Briefes an ihren besten Freund gehalten, weshalb diese ihn bzw. den Leser des Öfteren mit "Du" anspricht. Dies trägt dazu bei, dass man sich beinahe wie mittendrin fühlt, wodurch eine Identifikation mit den Figuren von Anfang an möglich ist.
Kaelyn ist eine absolut sympathische Protagonistin, die man schnell ins Herz schließt. Sie ist oftmals eher ruhig, besonnen, und hilfsbereit, kann aber auch stark und dickköpfig sein, wenn es darauf ankommt. Sie besitzt einen ausgeprägten Beschützerinstinkt und fast schon ein Helfer-Syndrom, dies wirkt aber beinahe nie übertrieben. Im Laufe der Handlung lernt sie den jungen Gav kennen, den man als Leser ebenso schnell lieb gewinnt. Die beiden sind sich in mancherlei Hinsicht sehr ähnlich und passen daher toll zusammen. Er ist ebenso eine Helfer-Natur wie sie und ein absoluter Gutmensch, trotzdem ist er nicht perfekt sondern im Gegenteil sehr menschlich, was ihn lebendig macht.
Kaelyns Familie besteht außer ihr aus ihrem schwulen Bruder Drew, der zwar seinem Vater gegenüber etwas zornig auftritt, für seine Verwandten aber eine deutliche Liebe hegt; ihrem viel beschäftigten Vater, der sich unglaublich um die Menschen auf der Insel sorgt; und ihrer ängstlichen, fürsorglichen Mutter. Besonders nahe kommt man aber ihrer kleinen Cousine Meredith, die sich zuckersüß und kindlich-naiv jedem einen Weg ins Herz bahnt. Nach einiger Zeit kommt es für die Protagonistin ansonsten sozusagen zu einer Zweckgemeinschaft mit Tessa, Leos Freundin, die sich aber bald zu einer guten Freundschaft entwickelt, da die beiden sich wunderbar ergänzen. Keine der Figuren ist schwarz-weiß gezeichnet oder sonderlich klischeehaft, weshalb man gern von ihnen liest.
Die Geschichte selbst ist natürlich nicht überragend neu: Irgendwo bricht eine Epidemie aus, es kommt zu Massenpaniken, Toten, Selbstjustiz und allerlei anderen Problemen. Trotzdem gelingt es der Autorin wunderbar, die Geschichte spannend und glaubwürdig rüberzubringen. Die Fakten sind gut recherchiert, der Krankheitsverlauf durchdacht und neuartig; viel dreht sich darum, ein Mittel zu finden und irgendwie zu überleben. Der Spannungsbogen hält sich beinahe kontinuierlich in der Höhe, auch, weil immer wieder schlimme Dinge passieren. Anders als in vielen anderen Werken werden hier auch Familie und Freunde der Protagonistin nicht verschont, was das Ganze noch viel authentischer macht.
Einige Wendungen sind natürlich vorhersehbar und etwas stereotyp, darüber sieht man bei der spannungsgeladenen Atmosphäre aber meistens gern hinweg. Eine Liebesgeschichte gibt es hier auch, allerdings nicht ganz so wie erwartet. Außerdem ist diese eher ruhig und spielt sich im Hintergrund ab, weshalb sie zwar für Lichtblicke und einige kleinere romantische Szenen sorgt, sich aber nicht plötzlich als Hauptaspekt herausstellt. Es geht eben um den Überlebenskampf, und dieser ist erschreckend und mitreißend gestaltet. Bis zum Ende spitzt sich die Lage immer weiter zu, neue Probleme tauchen auf, der Leser wird in Atem gehalten - bis das Werk beinahe abrupt, aber nur beinahe, in einem absolut gut gesetzten, wenn auch anstrengenden, Cliffhanger endet, der eines auf jeden Fall bedeutet: Band 2 muss her!
FAZIT:
"Wir sind verbannt" von Megan Crewe ist ein gut recherchierter und spannender Thriller um eine Epidemie, der vor allem mit den Figuren punktet. Die Liebesgeschichte hält sich im Hintergrund und die Story selbst überzeugt auch, war mir allerdings zwischenzeitlich etwas zu klischeehaft und vorhersehbar. So gibt es von mir sehr, sehr gute 4 Punkte - und ich freue mich auf Band 2, der im Herbst auf Deutsch erscheint.