Serie: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Die Wand war 1963 Marlen Haushofers dritter Roman. Wie ihre anderen Werke wurde er bei seinem Erscheinen von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Haushofer war zu Lebzeiten (sie starb 1970 im Alter von 49 Jahren an Knochenkrebs) durchaus eine respektierte Autorin, die verschiedene Literaturpreise errang; ihre heutige Bekanntheit bei einem größeren Publikum verdankt sie aber der Neuveröffentlichung von Die Wand 1983. Damals setzte sich vor allem die Frauenliteraturforschung für eine Neubewertung des schon vergessenen Buches ein, das mittlerweile seinen Weg in die Literaturlexika gefunden hat. Die Wand lässt sich durchaus als die Emanzipationsgeschichte einer Frau lesen - wie es auch oft getan wurde. Allerdings würde das Etikett 'Frauenliteratur' (Was ist das überhaupt?) dem Buch nicht entfernt gerecht. Ich werde weiter unten argumentieren, dass der Roman primär eine Charakterstudie ist, doch davon später mehr - zuerst der Inhalt:
Eine etwa vierzigjährige, namenlose Frau wird von ihrer Kusine und deren Mann eingeladen, mit ihnen ein Wochenende in ihrem Jagdhaus zu verbringen. Die Frau, die sich gern in der Natur aufhält und das Haus in einem österreichischen Gebirgstal von früheren Besuchen kennt, nimmt an. Am Abend nach ihrer Anreise fahren ihre Gastgeber zum Essen in den nächst gelegenen Ort, während die Frau lieber zurückbleibt und früh zu Bett geht.
Als sie am folgenden Morgen aufwacht, ist sie immer noch allein. Schließlich unternimmt sie mit Luchs, dem Hund des Hausherrn, einen Spaziergang und läuft am Talrand gegen eine unsichtbare wie undurchdringliche Wand. Die Frau geht an der Wand entlang und kommt zu dem Schluss, dass diese das Tal kreisförmig umgibt. Dahinter scheint die Welt stillzustehen; die Frau sieht wie schlafend daliegende - aber offenbar tote - Menschen und Tiere. Angesichts einer in letzter Zeit angespannten Weltlage vermutet sie, dass es zu einem Krieg gekommen ist, der die meisten Menschen getötet hat, ausgerechnet sie aber auf wundersame Weise verschonte.
Die Frau dreht nicht durch, wird nicht wahnsinnig. Direkt nach der Katastrophe reagiert sie (aus Gewohnheit) ruhig und beherrscht; und als Tage später zum ersten Mal die Verzweiflung in ihr aufwallen will, gibt sie dieser Schwäche nicht nach:
"Plötzlich schien es mir ganz unmöglich, diesen strahlenden Maitag zu überleben. Gleichzeitig wußte ich, daß (...) es für mich keinen Fluchtweg gab. Es war ja nicht der erste Tag in meinem Leben, den ich auf diese Weise überleben mußte. Je weniger ich mich wehrte, desto erträglicher würde es sein." (S. 26f)
Eine trächtige Kuh läuft der Frau zu, später noch eine Katze. Die Frau fühlt sich für das Wohlergehen der Tiere verantwortlich. Sie baut eine Hütte zum Stall um, pflanzt im Sommer Kartoffeln und Bohnen an und richtet ihr Leben darauf aus, sich und die Tiere durchzubringen. Wenn nötig, schießt sie als Nahrung schwaches Wild, ohne jedoch je die Abscheu vor dem Töten abzulegen. Ihrem Gefängnis zu entfliehen, versucht sie nie, obwohl es möglich sein müsste, sich unter der Wand durchzugraben (das Wasser eines kleinen Baches schafft das ja auch) oder über eine Bergwand zu entkommen.
Zweieinhalb Jahre später kommt es zu einer neuerlichen Katastrophe, bei der Luchs getötet wird, der Hund, der sie an jedem einzelnen Tag in ihrem Tal begleitet hat und den sie am Ende wie nur irgendeinen Menschen behandelt hat. Ja noch mehr: den sie geliebt hat. Denn Tiere kann man viel leichter lieben als andere Menschen. Ihres wichtigsten Freundes beraubt, beschließt die Frau, das vorliegende Buch zu verfassen:
"Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben. Es hat sich eben so für mich ergeben, daß ich schreiben muß, wenn ich nicht den Verstand verlieren will. (...) Ich bin ganz allein, und ich muß versuchen, die langen dunklen Wintermonate zu überstehen. Ich rechne nicht damit, daß diese Aufzeichnungen jemals gefunden werden. Im Augenblick weiß ich nicht einmal, ob ich es wünsche. (...) Von allen Seiten kriecht die Angst auf mich zu, und ich will nicht warten, bis sie mich erreicht und überwältigt. Ich werde schreiben, bis es dunkel wird, und diese neue, ungewohnte Arbeit soll meinen Kopf müde machen, leer und schläfrig. (S. 7f)
Die Wand ist u.a. ein Roman, in dem eine Frau in einer vormals von Männern beherrschten Welt lernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Die Frau, die sie früher war, hatte "... nie eine Möglichkeit, ihr Leben bewußt zu gestalten. Als sie jung war, nahm sie, unwissend, eine schwere Last auf sich und gründete eine Familie, und ...sie war ... immer nur eine geplagte, überforderte Frau von mittelmäßigem Verstand, obendrein in einer Welt, die den Frauen feindlich gegenüberstand und ihnen fremd und unheimlich war." Die Erzählerin lernt ihr kärgliches, stets von Krankheit und Entbehrung bedrohtes Leben im Jagdhaus bis zu einem bestimmten Grad zu schätzen. Sie steht morgens auf und arbeitet, weil sie sich um Lebewesen kümmern muss und kann. In der untergegangenen Welt hat sie erst leidenschaftlich ihren Mann und danach ihre zwei kleinen Töchter bemuttert; dann hörte sie auf zu leben und erstarrte in Langeweile. Jetzt erst, mit 40, trifft sie ihre eigenen Entscheidungen, kann Pläne verwirklichen.
Die zuletzt angeführte Textstelle scheint mir dennoch zu zeigen, dass es der Erzählerin nicht nur darum geht, alles Leid der Erde auf die Männer abzuwälzen. Natürlich, die Männer hatten in dieser Welt das Sagen (und wir sehen nun, wohin das geführt hat), aber die Frau sieht auch ihre eigene Rolle in der Vergangenheit realistisch: "Die Langeweile, unter der ich oft litt, war die Langeweile eines biederen Rosenzüchters auf einem Kongreß der Autofabrikanten." (S. 221) Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass alle männlichen Lebewesen in diesem Roman früher oder später sterben, aber die Erzählerin verteufelt nicht die Männer pauschal. Sie ist ganz froh, keinen männlichen Gefährten zu haben: Entweder ließe der seine Muskeln spielen (sie kann verstehen, dass das für jeden Mann eine Versuchung ist) oder aber er wäre schwach - und würde bald von ihr zu Tode bemuttert.
Man könnte versucht sein, Die Wand als Robinsonade oder als Ökoutopie zu lesen. Beides scheint mir ebenso abwegig wie jede andere einfache Lesart. Eine Robinsonade ist (laut Metzlers Lexikon Literatur) eine Adaption von Defoes Robinson Crusoe, und dieser Roman sei "gleichermaßen Erlebnisbericht, moralisch-religiöses und ökonomisches Traktat" und eine "Lektion vom erzieherischen Wert von Arbeit, Disziplin, Willensstärke und Gottgefälligkeit." Kurz: Das einsame Leben bildet den Einsiedler. Ähnliches gilt für Ausstiegsutopien, die der Natur selbst eine reinigende Bedeutung zubilligen (Natur vs. Zivilisation). Beispielhaft für solche Texte ein Zitat aus David Henry Thoreaus Klassiker Walden, in dem der Autor seine zwei Jahre in einer einsamen Hütte vor den Toren Bostons beschreibt: "Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, daß alles die Flucht ergreifen würde, was nicht Leben war."
Die Erzählerin kann in gar nichts einen höheren Sinn entdecken. (Die letzte männliche Sinnsuche endete in der Erfindung einer Art Neutronenbombe.) Das einsame Leben hat sie nicht glücklich gemacht. Glücklich zu sein ist nicht Teil ihrer charakterlichen Anlagen. Die Frau hat noch "nie einen Menschen gekannt, der innerlich frei gewesen wäre." (S. 75) Sie erlebt in ihrem neuen Leben einfach gelegentliche Momente der Zufriedenheit, und die Wand wird für sie zum überlebensgroßen Symbol eines Schutzwalls vor den Ansprüchen der alten Welt: "Vielleicht war die Wand auch nur der letzte verzweifelte Versuch eines gequälten Menschen, der ausbrechen mußte ... oder wahnsinnig werden." (S. 110) Die Wand umschließt kein Paradies. Die Frau plagen diverse Wehwehchen. Sie hat am Ende noch Munition für ein Jahr, Zündhölzer für zweieinhalb Jahre. "Die Erinnerung, die Trauer und die Furcht werden bleiben und die schwere Arbeit, solange ich lebe," schreibt sie am Ende ihrer Aufzeichnungen (S. 276). Und dann geht sie hinaus und füttert die weiße Krähe, die von ihren Artgenossen wegen ihres Andersseins verstoßen worden ist.
In Marlen Haushofers Roman bedarf es eines unglaublichen Symbols, damit eine Frau ihrem alten Leben entfliehen kann. Und ein Symbol ist diese Wand - des Schutzes und des menschlichen (männlichen?) Irrsinns. Auf 270 Textseiten schildert die Autorin minutiös die täglichen Mühen, Sorgen und gelegentlichen Freuden einer Frau, deren Welt auf einige Quadratkilometer begrenzt wurde. Jede einzelne Seite für sich war dank der einfachen, klaren, ruhig-distanzierten und völlig unpathetischen Sprache der Erzählerin ein Lesevergnügen. Zwischen den Zeilen, und besonders in den eingestreuten reflektiven Passagen, wurde das Bild einer Frau sichtbar, deren Denken mir sehr vertraut war und das mich berührt hat. Was die Lektüre zur Arbeit machte, war das fast völlige Fehlen einer spektakulären Handlung. Ich habe täglich höchstens zwanzig Seiten gelesen und erst nach sechs Wochen das Ende erreicht. Marlen Haushofer hat noch vier weitere Romane für Erwachsene sowie angeblich mindestens drei herausragende Jugendbücher geschrieben. Die Wand war sicher nicht das letzte Buch, das ich von ihr gelesen habe.