Serie: Alim der Gerber, Band 1 Eine Besprechung / Rezension von Frank Drehmel |
In der Stadt Bramhalem im Reiche des Propheten Jesameth stehen die jährlichen Feierlichkeiten zu Ehren des Religionsgründers an. Auch der kastenlose Gerber Alim, seine kleine Tochter Bul und sein alter Schwiegervater Pepeh sehen voller Vorfreude dem bunten Treiben, den Prozessionen und Opfer-Ritualen entgegen.
Doch die Obrigkeit macht Alim einen Strich durch die Rechnung. Schon für das Fest in seine feinsten Tücher gehüllt, erhält er den Auftrag, eine am Strand verendete Killersirene - ein walähnliches Meerestier - zu zerlegen und fortzuschaffen, da der Kadaver nicht die für den nächsten Tag vorgesehene Prozession stören soll.
Widerwillig macht sich der Gerber nächtens an sein blutiges, schmutziges Werk. Beim Zerlegen der Kreatur findet er in ihren Innereien ein verkrustetes Schwert und eine alte Rüstung. Daheim bei Pepeh säubern die beiden Männer die Fundstücke und machen eine Entdeckung, die von so großer Tragweite ist, dass sie sie unter allen Umständen geheim halten müssen: Die Rüstungsteile gehörten augenscheinlich dem Propheten, der über das Meer entschwunden sein soll, stellen also Reliquien dar, die ein Kastenloser nicht einmal berühren darf, und werfen Fragen zudem auf, die das gesamte Glaubensfundament zum Einsturz bringen könnten; also beschließen die beiden zunächst, die Artefakte zu vergraben.
Tags darauf kommt es während einer Opferzeremonie dennoch zum Skandal. Bul, die dem Kommissar Janissaire auf Grund ihrer Ungestümheit schon lange ein Dorn im Auge ist, lästert im Wissen um den nächtlichen Fund in kindlicher Unachtsamkeit dem Propheten. Daraufhin verhaftet man Alim und seine Tochter, foltert den Vater zunächst und stellt die beiden schließlich in einem Schandkorb zur Schau, in welchem sie ihres Todes harren sollen; lediglich ein gutmütiger Wächter zeigt einen Anflug von Mitleid mit den Gefangenen und nimmt sie vor den übelsten Schmähungen und Übergriffen durch das gemeine Volk in Schutz.
Als für Alim die Hoffnung schon verloren scheint, taucht wie aus heiterem Himmel in der folgenden Nacht unter dem Käfig der Prophet Jesameth höchstselbst auf und verlangt von dem gutmütigen Wachmann die Freilassung der beiden Delinquenten. Der strenggläubige Soldat leistet unverzüglich dem Ansinnen folge und eilt ob der göttlichen Erscheinung sofort zu Janissaire, nicht ahnend, dass der Schein manchmal trügen kann. Sei es, wie es sei: Für Alim und Bul beginnt damit die Flucht in eine ungewisse Zukunft.
Die Geschichte um Alim, den Gerber, seine Tochter Bul und den rüstigen Schwiegervater Pepeh, die Autor Lupano und Zeichnerin Augustin gemeinsam kongenial realisiert haben, ist zunächst eines: verstörend; ... und dann: faszinierend und fesselnd; denn sowohl in der Story als auch im Artwork tritt eine Ambivalenz zu Tage, wie man sie in Comics nur selten findet.
Auf der inhaltlichen Ebene kann man Lupanos Erzählung als Parabel auf eine von religiösem Eifer und totalitärem Gedankengut geprägte Gesellschaft begreifen, wobei sich nicht nur im Namen des Propheten - Jesameth -, der naheliegend als Zusammensetzung aus Jesus und Mohamed gedeutet werden kann, sondern auch im Personenkult, in dessem Mittelpunkt eine gewaltaffine Führungselite - der Kommissar, der heilige Eroberer oder der Opfer-Geber - steht, sowie den an die „Ludi Romani“ erinnernden Festivitäten der universelle Charakter des Ansatzes widerspiegelt. Obgleich diese Gesellschaft von einer durch asketische Strenge, Härte und Grausamkeit gezeichneten Ideologie getragen wird, scheint sie zahlreiche Freiräume und Nischen zu bieten, in denen sich auf der individuellen Ebene Zufriedenheit und Glück finden lassen. Alim jedenfalls, seine Familienmitglieder wie auch zahlreiche sonstige Figuren hadern nicht mit ihrem Los, sondern scheinen sich in ihren Rollen zurechtzufinden und diese mit einer Mischung aus Fatalismus und heiterem Optimismus anzunehmen. Insofern stellt „Alim der Gerber“ weniger eine düstere Abrechnung mit Totalitarismus dar als vielmehr die Beschreibung von Lebenskunst unter ungünstigen Bedingungen.
Das eigentlich Herausragende dieses Albums jedoch ist das vielschichtige Artwork Virginie Augustins, welches - um es vorwegzunehmen - zum Besten gehört, was die europäische Comic-Szene in den letzten Jahren hervorgebracht hat.
Ihr leichter Strich, der seine Verbindung zur Film-Animation - Augustin war in der Vergangenheit an den Zeichentrick-Projekten „Dragon Hunters - Die Drachenjäger“, “Corto Maltese: La cour secrète des Arcanes“ sowie Walt Disneys „Hercules“ beteiligt - zu keinem Zeitpunkt verhehlen kann, erweckt sowohl eine faszinierende orientalisch anmutende Welt als auch die Figuren selbst zum Leben. Nicht nur, dass die Zeichnerin im wahrsten Sinne des Wortes Charakter-Köpfe mit extrem hohem Wiedererkennungswert erschafft, ihr gelingt es auch, jegliche Art von Emotion mit wenigen, äußerst präzise gesetzten Strichen auf das Papier zu bannen. Die warmen, oft ins bunte Pastellene spielenden Farben tun ein Übriges, um der Geschichte Exotik und eine geradezu überwältigende Lebendigkeit bzw. Präsenz zu verleihen, wobei allerdings die visuelle Leichtigkeit nicht nur durch grausame Bilder wie dem Durchschneiden von Kehlen oder dem Ausweiden der Killersirene explizit durchbrochen wird, sondern generell im Widerspruch zu der oft tragisch-düsteren Geschichte zu stehen scheint.
Eben aus diesem irritierenden Widerspruch erwächst eine Faszination, eine Intensität, die nicht nur ungewöhnlich ist, sondern die ihresgleichen sucht.
Fazit: gleichermaßen „düster und tragisch“ wie „leicht und heiter“. Ein Juwel französischer Comic-Kunst, das in keiner Sammlung fehlen darf.