Titel: Die Wölfe in den Wänden Titel: Coraline (2003) Eine Rezension / Besprechung von Rainer Skupsch |
Fürs Sterben zu jung
Zweimal Neil Gaiman. Zweimal die womöglich erste Horrorgeschichte für sehr junge Leser, und zwei Bücher, die mir gut gefallen haben. Aber würde ich Die Wölfe in den Wänden einem etwa sechsjährigen Kind schenken bzw. Coraline einem achtjährigen? Neil Gaiman ist offensichtlich davon überzeugt, dass I-Männchen nicht so leicht in Furcht zu versetzen sind, und mutet ihnen entsprechend eine ganze Menge zu. Einige Amazon-Rezensenten beschreiben ebenfalls, wie sehr ihren Kleinen etwa Gaiman/McKeans Bildergeschichte gefallen hat. Und dennoch: Ich habe mich gefragt, ob ich "Die Wölfe in den Wänden" dieses Jahr meiner sechsjährigen Nichte zum Geburtstag schicken soll, und werde es nicht tun. Was, wenn sie - wie Lucy, die Heldin der Geschichte - sich künftig immer fragte, ob da nicht doch ein Geräusch war in der Wand?
Lucy lebt mit ihren Eltern und ihrem großen Bruder in einem alten Einfamilienhaus. Papa verdient sein Geld mit Tubaspielen, der Bruder hängt immer vor der Spielekonsole und die Mutter ist - zumindest wenn das Buch beginnt - damit beschäftigt, in geradezu surrealen Mengen Marmelade einzukochen. Als Lucy sich mit einer Entdeckung an sie wendet, reagiert sie genau so, wie es die Familie Lucy gegenüber stets tut: Sie nimmt sie nicht ernst.
"Wir haben Wölfe in den Wänden", sagte Lucy zu ihrer Mutter. "Ich kann sie hören."
"Nein", sagte die Mutter. In den Wänden sind keine Wölfe. Du hast wahrscheinlich Mäuse gehört."
"Wölfe", sagte Lucy.
"Ich bin sicher, dass es keine Wölfe sind" sagte ihre Mutter. "Denn du weißt ja, dass es heißt ... Wenn die Wölfe aus den Wänden kommen, ist alles vorbei."
"Was ist vorbei?", fragte Lucy.
"Es", sagte ihre Mutter. "Jeder weiß das."
Nachdem sie solcherart von Mutter abgefertigt wurde, wendet sich Lucy erst an den Vater, dann an den Bruder und bekommt doch nur die immer gleiche Litanei zu hören: Wölfe in Wänden kann es nicht geben, und gäbe es sie doch, wäre alles verloren. Warum das so sein soll, erklärt ihr niemand. Es ist halt so, wie es ist, und es war schon immer so, basta! Zum Glück ist das Lucy als Erklärung eindeutig zu wenig. Irgendwann kommen die Wölfe tatsächlich aus den Wänden, vertreiben die Menschen und verwandeln das Haus in einen Saustall. Drei von vier Familienmitgliedern nehmen diese Wendung der Dinge schicksalsergeben hin - nur Lucy gibt nicht auf und kämpft. Sie hinterfragt die Regeln des Spiels und zeigt den Jüngeren unter den Lesern, dass man etwas im Leben erreichen kann, wenn man nur seinen Grips benutzt. Lucy dreht den Spieß um und demonstriert den Hausbesetzern, wer hier zuletzt lachen wird.
Laut der "Encyclopedia of Fantasy" (S. 991) ist "Die Wölfe" offenbar eine "wainscot tale" (wainscot = Täfelung), d. h. eine Geschichte, in der sich eine eigenständige Welt in den Wänden verbirgt, die jedoch durch Schnittstellen mit unserer Welt verbunden ist. Eine wahrlich furchterregende Vorstellung, scheint mir. Die britische Kritikerin Farah Mendlesohn sieht dies jedoch anders und argumentiert:
Neil Gaiman’s Lucy is the sanest and most in control both of her world and the wainscot. This is of course deliberate. The reason The Wolves in the Walls can maintain its delicious thrill without scaring the bejeezus out of a five-year-old is because Lucy is so in control of her world. (Emerald City, Nr. 100)
Dass Kinder in Kinderbüchern nicht die Kontrolle über den Gang der Ereignisse verlieren dürfen, ist natürlich ein unumstößliches Grundprinzip dieser Art Literatur. Außerdem tut Zeichner Dave McKean sein Möglichstes, die pelzigen Eindringlinge nicht gar zu schauerlich wirken zu lassen. Im Gegensatz zum Rest des Buches sind seine Wölfe Federzeichnungen, die mich am ehesten an Karl den Kojoten erinnerten. Wenn sie Tuba spielen oder Playstation-Rekorde brechen, sieht das ausgesprochen komisch aus. Die übrigen Seiten wirken stylistisch ganz anders, für meinen Geschmack mindestens so surreal wie die Marmeladenberge in Muttis Küche. Das Buch besteht überwiegend aus ganzseitigen ... Gemälden, in die Neil Gaimans Texte in unterschiedlichen Schrifttypen und -größen verteilt wurden. Vor allem dann, wenn die älteren Familienmitglieder mal wieder den Chor der Angepassten und Mutlosen anstimmen, wird die Seite auch viergeteilt:
"Meine Marmelade! Meine Wände!", sagte Lucys Mutter. [Bild 1]
"Meine Videospielrekorde!", sagte Lucys Bruder. [Bild 2]
"Meine zweitbeste Tuba!", sagte Lucys Vater. [Bild 3]
"Genau. Mir reicht’s!", sagte Lucy. [Bild 4]
Ich verstehe nichts von moderner Kunst. Offensichtlich sind die Menschen auf McKeans Bildern aber alles andere als naturalistisch gezeichnet. McKean arbeitet mit Fotomontagen und einer Collagetechnik, deren Resultate bisweilen atemberaubend schön sind. Eine ganze Reihe von Bildern aus diesem Buch würde ich mir ohne Zögern in einem teuren Rahmen an die Wand hängen. Eigentlich aber sollte dies ein Ding der Unmöglichkeit sein. Wiederholt dachte ich mir nämlich während der Lektüre: "Jetzt noch eine gewiefte Vermarktungsstrategie, und Dave McKean wird als Maler Multimillionär." McKeans Beitrag macht dieses Kinderbuch zu einem besonderen Erlebnis. McKean und Gaiman haben in der Vergangenheit wiederholt zusammengearbeitet - etwa bei den Sandman-Graphic-Novels. Bei "Die Wölfe" frage ich mich allerdings, was kleine Kinder wohl von diesen Bildern halten. Ich fühlte mich jedenfalls an Maurice Sendaks Bücher "Als Papa fort war" sowie "Wo die wilden Kerle wohnen" erinnert, die in den achtziger Jahren in keinem Akademikerhaushalt fehlen durften - das typische Beispiel von Bilderbüchern für ganz, ganz große Kinder. Diese dürften auch kein Problem damit haben, die stolzen 18 Euro zu löhnen, die der Carlsen Verlag für die deutsche Ausgabe fordert ...
Die deutsche Ausgabe von "Coraline" ist im Vergleich dazu viel, viel billiger - leider in mehr als einer Hinsicht. Während sich englische Leser wieder auf ein Titelbild sowie 15 ganzseitige Illustrationen von Dave McKean freuen können, ist das deutsche Taschenbuch-Cover einfach auf deprimierende Weise nichtssagend - und Illustrationen gibt es auch nicht.
"Coraline" richtet sich an etwas ältere Leser und ist ein Text in Novellenlänge. Als solcher gewann er für Gaiman den Hugo, den Nebula und den Bram Stoker Award. Auch in dieser Geschichte geht es um ein kluges Mädchen mit etwas schrulligen Eltern, die sich nicht so recht um sie kümmern - aber zumindest als Einzige ihre Tochter mit dem richtigen, seltsamen Namen anreden, den sie für sie gewählt haben. Alle Nachbarn im Haus nennen das Mädchen - ein running gag - grundsätzlich Caroline. Die Handlung der Geschichte setzt ein, nachdem Coraline Jones und ihre Eltern in ein altes englisches Landhaus eingezogen sind, das erst jüngst renoviert und in Mietwohnungen unterteilt wurde. Es sind Sommerferien, draußen regnet es, und Coraline weiß so recht nichts mit sich anzufangen. Ihre Eltern, die beide am Computer arbeiten, wollen auch nicht gestört werden. Also macht das Mädchen sich auf, die neue Wohnung zu erkunden. Dabei stößt es in der sogenannten "guten Stube" (im Original der "drawing room") auf eine Tür, die nirgendwohin führt: Wenn man sie öffnet, steht man vor einer Mauer, die die Handwerker hochzogen, als sie das Haus umbauten.
In der folgenden Nacht wird Coraline von seltsamen Geräuschen geweckt. Als sie nachschauen geht, sieht sie, wie ein kleiner schwarzer Schatten die gute Stube betritt und - verschwindet. Jetzt ist Coralines Neugier geweckt. Am nächsten Tag schaut sie sich das Zimmer genauer an. Als sie dieses Mal die alte Tür öffnet, findet sie statt der Mauer einen Durchgang in ein Duplikat der eigenen Wohnung vor. Alles scheint hier genauso auszusehen wie daheim. Selbst Vater und Mutter sind da - oder zumindest zwei Wesen, die ihren Eltern zum Verwechseln ähnlich sähen, wenn sie nicht an Stelle der Augen aufgenähte schwarze Knöpfe im Gesicht trügen. Die `anderen’ Eltern freuen sich sehr über Coralines Ankunft. Sie lesen ihr jeden Wunsch von den Lippen ab und bitten sie schließlich, doch bei ihnen zu bleiben. Nur eine Sache sei vorher zu erledigen - und dabei deuten sie auf Nadel, Knöpfe und Zwirn. Bei diesem Anblick bekommt es das Mädchen doch mit der Angst. Sie entschuldigt sich und flüchtet zurück auf ihre Seite des Hauses.
Dort findet sie ihre Wohnung leer vor. Vergeblich wartet Coraline auf die Rückkehr der Eltern. Am nächsten Morgen führt sie der streunende Kater, den sie kürzlich bei sich aufgenommen hat, zu einem Spiegel im Korridor. Dort endlich sieht das Mädchen Vater und Mutter wieder. Sie winken ihr zu, und die Mutter schreibt auf ihre Seite des Spiegels das Wort "Hilfe". Coraline ruft bei der Polizei an, wird dort aber natürlich nicht für voll genommen. Jetzt ist ihr klar, was sie tun muss. Offensichtlich sind die Eltern in die andere Welt entführt worden, und wenn ihr sonst niemand hilft, muss sie halt selbst erneut hinüber, um die beiden zu retten.
Angeblich ging Neil Gaiman zehn Jahre mit der Idee zu dieser Geschichte schwanger, bevor er sie zu Papier brachte. Das wundert mich nicht. Die Grundidee erscheint mir wirklich bestechend und ist anfangs auch sprachlich sehr schön umgesetzt. Als Coraline wegen des schlechten Wetters nicht weiter ihren neuen Garten erkunden kann, entspinnt sich z. B. zwischen ihr und ihrem Vater folgender Dialog:
Ohne sich umzudrehen, sagte er: "Hallo, Coraline", als sie hereinkam.
"Hmpf", sagte Coraline. "Es regnet."
"Ja", sagte der Vater. "Es gießt in Strömen."
"Nein", sagte Coraline. "Es regnet einfach nur. Kann ich nach draußen?"
"Was sagt deine Mutter dazu?"
"Sie sagt: Bei so einem Wetter gehst du mir nicht vor die Tür, Coraline Jones."
"Dann nicht."
"Aber ich möchte mit meinen Erkundungsgängen weitermachen."
"Dann erkunde doch die Wohnung", schlug ihr Vater vor. "Schau her - hier sind ein Blatt Papier und ein Stift. Zähl sämtliche Türen und Fenster. Leg eine Liste von allem an, was blau ist. Unternimm eine Expedition, um den Heißwassertank zu entdecken. Und lass mich in Ruhe arbeiten." (S. 12)
Bevor das Grauen zum ersten Mal auftritt, erzählt Gaiman eine kluge wie amüsante Geschichte. Wie schon bei "Die Wölfe" steht im Mittelpunkt von "Coraline" jedoch ein Mädchen, das in seinem eigenen Heim das Tor zu einer unheimlichen, bedrohlichen (Schatten-)Welt findet. Zwangsläufig ändert sich also der Erzählton. Es tritt auf: ein Monster mit Knopfaugen in der Gestalt ihrer Mutter. An und für sich ist das wieder eine originelle Idee, nur stellte sich mir bei der Lektüre irgendwann die Frage, ob ich wirklich noch ein Buch für Kinder im Grundschulalter las oder nicht vielmehr eine Horrorstory, deren Protagonistin zufällig ziemlich jung war. Weiter oben habe ich darauf hingeweisen, dass die Helden von Kinderbüchern nicht das Gefühl bekommen sollten, wehrlos einer Bedrohung ausgeliefert zu sein. In dieser Hinsicht kriegt Gaiman nur gerade so eben die Kurve. Zum Glück greift die "andere" Mutter (deren Herkunft letztlich ungeklärt bleibt) nicht sofort zu brutaler körperlicher Gewalt, um ihre Ziele zu erreichen. Und zum Glück steht Coraline bei ihrem Abenteuer in der Schattenwelt oft ihr streunender Kater hilfreich zur Seite. Dennoch aber fährt Gaiman ein Sammelsurium an Splattereffekten auf, das auch "Nightmare on Elm Street" gut zu Gesicht gestanden hätte.
Im Übrigen kommt der Geschichte in ihrem Verlauf leider die Originalität abhanden (und zwar für meinen Geschmack ab Seite 97). Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie deshalb so lange in Gaimans Schublade lag, weil er etwa an dieser Stelle inhaltlich nicht so recht weiterwusste. Auf jeden Fall empfand ich die Ausführung der letzten knapp achtzig Seiten als eher routiniert und in ausgefahrenen Bahnen verlaufend.
Wenn man Wikipedia vertrauen kann, entsteht derzeit eine Verfilmung des Buches mit Dakota Fanning und Teri Hatcher in den Hauptrollen. Ob die dann in deutschen Kinos erst Kindern ab 12 zugänglich sein wird?
"Fürs Sterben zu jung" habe ich diese Besprechung übertitelt und damit u. a. auf den möglichen Konflikt zwischen Inhalt und Zielgruppe zweier Kinderbücher von Neil Gaiman hinweisen wollen. Wenn Sie, lieber Leser, Teenager sind oder älter, kann ich Ihnen beide Werke mit gutem Gewissen empfehlen. Und selbst jüngeren Mitbürgern werden beide Bücher wahrscheinlich sehr gefallen. Vielleicht haben einige aber auch Pech und eine zu ausgeprägte Phantasie, in welchem Fall sie damit rechnen müssen, die nächsten Jahre nachts eine Lampe in ihrem Kinderzimmer anzulassen. Meine Nichte bekommt jedenfalls keines der beiden Bücher von mir.
Coraline - die Rezension von Erik Schreiber