Serie: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Looking Backward 2000-1887 ist eine klassische politische Utopie und in den Vereinigten Staaten fast so bekannt wie Harriet Beecher-Stowes Onkel Toms Hütte oder Alexis de Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika. Das Buch beschreibt eine auf sozialistische Prinzipien gegründete Überflussgesellschaft im Jahre 2000 und war in einer Zeit extremer sozialer Ungleichheit und Arbeiteraufstände ein unglaublicher Bestseller. In den ersten Jahren nach seiner Veröffentlichung verkaufte sich das Buch des Journalisten und Schriftstellers Edward Bellamy in den USA über 500000 Mal und führte zur Gründung einer nationalen Bewegung ("The Nationalist Movement") zur Umsetzung des Buches in die Realität, welche zumindest einige Jahre lang starken Zulauf hatte.
Der Erfolg von Bellamys utopischem Roman lässt sich durch die zeitgeschichtlichen Umstände erklären. Nach dem Ende des Sezessionskrieges erlebten die USA eine Zeit nie gekannten wirtschaftlichen Wachstums. Der geschlagene - landwirtschaftlich geprägte - Süden und der gesamte Westen des Landes sollten mit einem Eisenbahnnetz versehen werden. In beiden Regionen eröffneten sich dem industriellen Investitionskapital unbegrenzte Möglichkeiten. Zwischen 1860 und 1920 wanderten 28,5 Millionen Europäer in die USA ein. Zwischen 1861 und 1911 verzwölffachten sich die Kapitalinvestitionen. Zwischen 1860 und 1900 stieg die Zahl der Industriearbeiter von 1,5 auf 5,5 Millionen. Dieses "Vergoldete Zeitalter" (wie es schon 1870 Mark Twain im Titel eines Romans nannte) erlaubte es einigen Trusts und ihren Besitzern, unglaubliche Reichtümer anzuhäufen, während große Bevölkerungsteile in Armut lebten. Menschen mit Namen wie Rockefeller, Vanderbilt, Guggenheim, Carnegie und Pillsbury errichteten Unternehmensgruppen, die den Markt beherrschten und ihre steigende monopolistische Macht durch Absprachen missbrauchten. Ab den frühen siebziger Jahren regte sich in der Arbeiterschaft Widerstand gegen Lohnkürzungen und soziale Ungleichheit. Looking Backward erschien in einer Zeit innerer Unruhen, Gewalttätigkeiten und Ängste des Bürgertums vor der `Anarchie’ des Proletariats. Als bei Ausständen in Chicago am 1. Mai 1886 ein Anarchist eine Bombe auf eine Polizeistreife warf, wurden hunderte Demonstranten von den Ordnungskräften zusammengeschossen und in der Folge vier - nachweislich unschuldige - Arbeiterführer zum Tode verurteilt und trotz internationaler Proteste hingerichtet. (Diesen Ereignissen ist es geschuldet, dass in Deutschland heute der 1. Mai ein gesetzlicher Feiertag ist.)
Edward Bellamy, der bei einem Deutschland-Aufenthalt im Winter 1868-69 die deutsche sozialistische Bewegung kennen gelernt hatte, verfasste sein bekanntestes Buch (er ist auch der Autor mehrerer romantischer Romane) in einem gesellschaftlichen Klima, in dem nicht wenige Menschen den Zusammenbruch des Staates fürchteten. Looking Backward ist das politische Manifest eines Moralisten, der seine Ziele in eine Romanhandlung einkleidete, um größere Leserschichten zu erreichen. Der äußere Inhalt des Buches ist schnell erzählt: Julian West, letzter Spross einer alten Kaufmannsfamilie, ist mit der Bürgertochter Edith Bartlett verlobt, und wenn ständig neue Streiks nicht die Fertigstellung seines neuen Hauses vor den Toren Bostons verhinderten, hätte er seine Verlobte längst geheiratet. Da Julian regelmäßig an extremer Schlaflosigkeit leidet, lässt er sich am 13. Mai 1887 im feuerfesten Kellerraum seines Stadthauses von dem Magnetiseur und Quacksalber "Dr." Pillsbury (!) in eine tiefe Trance versetzen, aus der ihn sein Diener Sawyer am nächsten Morgen wecken soll. Als Julian dann wirklich erwacht, ist nicht nur eine Nacht vergangen, sondern volle 113 Jahre. Offenbar ist Julians Haus nach seinem Einschlafen niedergebrannt und der Diener dabei umgekommen. Jetzt schreibt man das Jahr 2000. Doctor Leete, ein pensionierter Arzt, hat Julians Schutzraum bei Bauarbeiten in seinem Garten entdeckt und nimmt den zuerst ungläubigen jungen Mann in dem Haus auf, das er zusammen mit seiner Gattin und seiner engelsgleichen Tochter Edith (!) bewohnt. In den folgenden neun Tagen (und 26 Kapiteln) lernt Julian das neue Amerika kennen und verliebt sich (ohne große Umschweife) in die Tochter des Hauses, die, wie sich letztlich herausstellt, die Urenkelin seiner früheren Verlobten ist und schon immer bei der Lektüre von Julians Briefen an ihre Vorfahrin von ihm geschwärmt hat.
Von den 26 Kapiteln in der schönen neuen Welt beschreiben eine Hand voll die Romanze zwischen Julian und Edith. Die anderen sind sehr einseitige Gespräche, meist zwischen Dr. Leete und Julian, in denen der Arzt schulmeisterlich und selbstgefällig die "nationalistische" (das Wort "sozialistisch" nimmt Bellamy nie in den Mund) Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts erklärt, während Julian andächtig nickt oder nützliche Stichworte liefert. Ein wirklicher Dialog kommt zwischen den beiden nie auf. Julian erkennt bald, in welchem Ausmaß die Ungleichheit der Menschen immer schon sein Gewissen belastet hat (Schlaflosigkeit!), und möchte nie wieder fort - als er am zehnten Morgen aufwacht und (zu seinem wie des Lesers Schrecken) erkennt, dass die letzten Tage nur ein Traum waren. Er durchwandert Boston, sieht überall Elend und Not und wird, als er am Abend im Hause seiner Schwiegereltern von seiner Verzweiflung spricht, umstandslos aus dem Haus geworfen. Zum Glück erwacht er erst jetzt wirklich (aufmerksame Leser ahnten das schon; immerhin wird in einem angeblichen Vorwort des Buches darauf hingewiesen, dass das Werk ein Lehrtext in unterhaltsamer Form aus dem Jahre 2000 sei). Ende gut, alles gut für Julian.
Was aber hat Julian in diesen neun Tagen über die "nationalistische" Gesellschaft der Zukunft erfahren? Edward Bellamy behauptet (via Dr. Leete), der Nationalismus habe sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts friedlich, als Folge einer allgemeinen Einsicht in die Notwendigkeit des Prozesses durchgesetzt. Es habe keine Revolution gegeben, sondern die immer stärkeren Monopolisierungstendenzen hätten dazu geführt, dass die Gesellschaft als Ganzes, in der Gestalt der neuen "Nationalist Party", die verbliebenen Konzerne schließlich in die Leitung des Staates gegeben hätte. Die Rolle der Arbeiterklasse bei dieser Entwicklung redet Bellamy bewusst klein, zu erwartenden Widerstand aus den Reihen der Multimillionäre und ihrer Presseorgane blendet er (aus taktischen Gründen?) völlig aus. Überhaupt bleibt die Übergangsphase weitgehend im Dunkeln. Es entsteht der Eindruck, Bellamy möchte auf keinen Fall seine Leserschaft verschrecken.
Anschließend entwirft Bellamy das Bild einer sozialistischen Zentralen Verwaltungswirtschaft, deren Hauptideale Einheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind. Dabei `erfindet’ der Autor nebenbei Kaufhäuser, Kreditkarten, das Radio und ein das ganze Land durchziehendes automatisches Röhren-Transportsystem, das alle Benutzer von durch Brummis verstopften Autobahnen vor Neid erblassen lässt. In der Zukunft existieren für alle Menschen gleiche Bildungschancen. Kinder gehen bis zu ihrem 21. Lebensjahr zur Schule, durchlaufen verschiedene Berufspraktika und finden dabei hoffentlich heraus, welcher Berufsweg ihren Wünschen und Fähigkeiten entspricht. Danach beginnen die Arbeitsjahre in der sogenannten "Industrial Army" (für heutige Leser etwas befremdlich wählt Bellamy als organisatorisches Vorbild das Militär). Von 21-24 ist jedermann ungelernter Arbeiter, danach durchläuft man handwerkliche oder akademische Ausbildungen und arbeitet bis zu seinem 45. Lebensjahr. Anschließend ist man dann für die zweite Hälfte seines Lebens Pensionär und kann ganz seinen persönlichen Vorlieben frönen. Bellamy betont immer wieder, wie wichtig ihm die persönliche Selbstentfaltung ist. In seiner Utopie bekommen alle Menschen exakt das gleiche Einkommen zur Verfügung gestellt. Dafür wird von ihnen verlangt, sich mit ihrer Arbeitskraft und nach bestem Vermögen zwischen dem 21. und 45. Lebensjahr für die Nation einzusetzen. (Wer will, kann auch nach dem 33. Geburtstag in Rente gehen, muss dann allerdings für den Rest seiner Tage mit `Hartz IV’ auskommen.) Nur denen, die sich gänzlich dem Gemeinsinn verweigern, wird (falls sie nicht auswandern) bei Wasser, Brot und Einzelhaft Zeit zu einem Gesinnungswandel gegeben. Die Lebensarbeitszeit kann dank technologischer Fortschritte, effizienter Wirtschaftsorganisation und der Tatsache, dass auch Frauen arbeiten (wenn sie nicht gerade im Mutterschaftsurlaub sind), sehr gering gehalten werden, und da alle Bürger hochgebildet sind, werden viele von ihnen ihre zweite Lebenshälfte nach Überzeugung des Autors nicht nur mit seichtem Amusement verbringen.
Edward Bellamys utopischer Entwurf hat viele sympathische Eigenschaften, einige Schwachstellen, und er lässt einige Fragen unbeantwortet. Im Jahre 2000 gibt es kein Bargeld mehr. Alle Bürger besitzen Kreditkarten und bezahlen damit für staatliche Waren und Dienstleistungen (z. B. für ungelernte Arbeiter als Haushaltshilfe). Kaufen und Verkaufen zwischen Privatleuten gilt als anti-sozial und ist verpönt. Als Folge leben alle bequem in einer Überflussgesellschaft, horten aber keine unnötigen Dinge, die sie eh nicht privat weiterveräußern könnten. Geld, und damit die menschliche Habgier, hat einen großen Teil seiner Bedeutung verloren, und schon dadurch ist Kriminalität (angeblich) aus dem Alltag fast verschwunden.
Dass Frauen genauso arbeiten wie Männer, erscheint einerseits als bemerkenswert modern. Andererseits bilden die Damen eine gesonderte Industrial Army, die, wie Dr Leete einmal gönnerhaft bemerkt, die Männer ihnen gegeben haben. Die einzigen Frauen im Buch, Mrs. Leete und Edith, sind auch nach 100 Jahren Nationalismus ihrem Benehmen nach typische viktorianische Damen, die den Patriarchen schalten und walten lassen und außer Einkaufen nicht viel im Sinn haben. Ihre Mode scheint sich seit 1887 kaum verändert zu haben, und Edith Leete wirkt wie direkt einem Roman von Julian Wests Lieblingsautor Charles Dickens entsprungen: ein Engel, der schneller erröten kann, als Lucky Luke seinen Schatten erschießt.
Als Mensch, der weiß, welche Gräueltaten im 20. Jahrhundert im Namen des Kommunismus/Sozialismus verübt wurden, schaut man genauer auf das Regierungs- und Demokratiesystem, das Bellamy entwirft. In seiner Welt gibt es keine Politiker. Praktisch alles läuft auf den verschiedenen Rangebenen der Industrial Army ab. Der Aufstieg innerhalb dieser Hierarchie ist nur durch erstklassige Arbeit fürs Vaterland möglich. Ein gestiegenes Sozialprestige als `Held der Arbeit’ reicht für Bellamy als Anreiz aus, um zu verhindern, dass die Menschen sich faul zurücklehnen und eine ruhige Kugel schieben. Männer (!), die die oberste Ebene der Industrial Army erreicht haben, können nach ihrer Pensionierung von den (allein wahlberechtigten) Mit-Rentnern zum Präsidenten der Republik gewählt werden. Der Präsident besetzt sämtliche frei werdenden Richterstellen, außer im Supreme Court. Der Kongress tritt nur alle fünf Jahre zusammen, da es kaum Gesetze zu beschließen gibt. Die öffentliche Meinungs- und Religionsfreiheit sind dadurch gewährleistet, dass jeder, der genug Abonnenten bzw. Gläubige vorweisen kann, ein Anrecht darauf erwirbt, sich quasi kapitalistisch von diesen Gruppen finanzieren zu lassen. Dr. Leete beschreibt all diese Regelungen (wie immer) als perfekt. Ob sie in der Realität funktionierten, könnte nur ein Versuch zeigen. Bellamys Boston am Ende des Millenniums (!) ist eine Gartenstadt ohne Kaminschlote, die Realisierung des Reiches Gottes auf Erden, das zu errichten sich schon die amerikanischen Pilgerväter für auserkoren hielten (Dr. Leete spielt einmal direkt darauf an.) Bellamys Amerika ist eine Utopie des Bürgertums, in dem dank der für alle gleichen Bildungschancen die Arbeiterklasse als `Unruheherd’ verschwunden ist. Die USA besitzt keine Armee mehr (obwohl auch im Jahre 2000 nur die h a l b e Welt aus sozialistischen Bruderstaaten besteht), und im gesamten Land gibt es so viele Polizeibeamte wie 1887 allein im Bundesstaat Massachusetts. Looking Backward 2000-1887 ist ein hochmoralisches Buch, das davon ausgeht, dass der Mensch lernfähig ist und zu Gefühlen der Brüderlichkeit und Solidarität fähig. Dieser Auffassung muss man nicht zustimmen - ich erinnere mich z.B., einmal gelesen zu haben (Desmond Morris, Das Tier Mensch), Menschen könnten sich nur sozialen Gruppen von maximal 130 Mitgliedern gegenüber wirklich verpflichtet fühlen. Andererseits werden wir nie erfahren, wie praktikabel der Sozialismus in einer demokratisch aufgeklärten, hochgebildeten Gesellschaft ist, da unsere Medien Sozialisten routinemäßig als Träumer darstellen oder als Unmündige, die aus Stalin und Pol Pot nichts gelernt haben.
In den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts schränkte das erste Anti-Trust-Gesetz von 1890 die Macht der Monopolisten ein. Die Nationalist Movement verlor bald an Einfluss, woran auch eine 1897 von Edward Bellamy nachgeschobene (und als Roman offenbar sehr langweilige) Fortsetzung von Looking Backward unter dem Titel Equality nichts ändern konnte. Ein Jahr später starb der Autor mit 48 Jahren an Tuberkulose.